Manch einer fühlt sich fit und schaut verwundert auf sein Alter. Gewiss, Bäume reißt er nicht mehr aus, aber pflanzen könnte er noch einige (denkt er sich und erliegt vorübergehend juveniler Illusion). Sorgen machen körperliche Minisensationen. Jede kleinste Veränderung gibt Anlass zu pathologischen Vermutungen. In der Summe mehr Angst als Verstand.

Der Gesundheitswahn der Gegenwart. Jeder Genuss ein potentieller Schadensverursacher. Fast unmöglich, das Gute im Genuss zu sehen.

”Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen das Altwerden, ich will nur nicht alt werden, jedenfalls nicht so schnell”, sagt Teiresias und dreht seine morgendliche Joggingrunde, für die ich ihm sündhaft teure Laufschuhe spendiert habe (übrigens die einzigen Schuhe, die er trägt neben seinen antiken Sandalen).

”Beziehungsmäßig lebt ihr heutzutage in einem ganz schönen Dilemma”, meint Teiresias und blickt aus einer Broschüre auf: ”Familie und Welt”, der Titel. ”Männer mögen keine Frauen, die nur Beruf und Karriere im Blick haben (und ihnen am Ende noch Konkurrenz machen), was sie sich aber nicht anmerken lassen, und Frauen mögen keine Männer, die allzu verständnis- und liebevoll daher kommen, auch wenn sie genau das nach außen hin zu bekunden scheinen, statt ihrem Wunsch nach dem starken Mann nachzugeben. Mann und Frau leben bei euch verständnislos nebeneinander her, rundum aufgeklärt, natürlich selbstständig und vor allem selbst- und geschlechtsoptimiert, sehnen sich aber im tiefsten Winkel ihres Herzens nach den alten Verhältnissen männlichen Versorgens und weiblichen Versorgtwerdens.
”Na”, lieber Teiresias, ”da erlaube ich mir zu widersprechen, da scheinst du mir doch, was die Beziehung von Mann und Frau anbetrifft, hängengeblieben zu sein in deinen frühen Jahren, die mit unserer gegenwärtigen Lebenssituation nicht das Geringste mehr zu tun haben. Auf kurzen Nenner gebracht: Man will sich gegenseitig (wie zu allen Zeiten), whatever sex and anything goes.”
”Du musst es ja wissen”, zuckt Teiresias mit den Schultern und zieht sich missmutig in seine Bildecke zurück.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau bemisst sich an der Frage, wer das Klo putzt, auch dann, wenn eine Putzfrau diese Arbeit übernimmt.

Neulich sagte mein Enkelkind hinter meinem Rücken: ”Also eins muss man ihm lassen, Opa kann wirklich gut malen.” Das hat mich dann doch ungemein beruhigt, denn ich dachte bereits, dass das niemandem auffällt.

Der Verlust an unverfälschtem Leben folgt der Verfeinerung der Lebensverhältnisse. Also wieder etwas gröber werden!