Apr 2021

Es mangelt mir nicht an Getränken, aber sie schmecken alle nicht mehr. Das liegt an ihrem Geschmack. Einzig Wasser vermag mich geschmacklich noch zu überzeugen.

Augenblicklich vergeht kein Tag, an dem man sich nicht sorgenvolle Gedanken um die eigene Gesundheit machen könnte. Immerhin treten auf diese Weise andere, möglicherweise viel dringendere und schwieriger zu lösende Probleme in den Hintergrund.

Die Schärfe des Witzes nimmt im Verhältnis zur Verwerflichkeit seines Inhalts zu. Nur dem schwarzen Humor bleibt das Wort nicht im Hals stecken.

Es gibt Menschen, denen der Verlust ihrer Jugendlichkeit nicht gut bekommt. Andere wiederum verändern sich zu ihrem Vorteil. Es ist, als ob ihnen ein zweites Gesicht, ein weiteres Leben, geschenkt würde.

Er hat sein Leben von Anfang an auf(s) Spiel gesetzt. Da war dann nicht viel Zeit für anderes.

Von Fortbildung hält er nichts, von Bildung schon.

Wer über eine unversiegbare Quelle verfügen kann, ist fein raus, meint Teiresias.

Unverhältnismäßigkeit zum Einsatz kommender Mittel wirft immer ein bezeichnendes Licht auf bestehende Verhältnisse.

Traum. Das Panorama war beeindruckend, zugleich mysteriös wie unbeschreiblich schön. Um mich herum schroffe Berghänge, denen idyllische Dörfer anhingen wie edler Schmuck. Sonne, trockene Wärme, knarzig-krumme Bäume, Duft nach Harz und Wildkräutern aller Art. Ich saß auf einem Felsvorsprung, der Teil einer ungelenken Treppe war, die aus dem Gewässer vor mir in die Höhe stieg. Ich hoffte auf einen Weg, weiter oben. Hergeflogen war ich, ein Vogel in Menschengestalt, hinweg über den die Talsohle ausfüllenden See, in dem sehr seltene, vom Aussterben bedrohte Haifische aufgezogen wurden. Ich konnte ihre schlanken Körper sehen, die elegant dahinglitten im Wasser unter mir. Ich flog knapp über der Oberfläche und ein wenig hatte ich Sorge, ein Hai könnte hochschnellen und mich packen. Am Ende des Sees dann, vielleicht auch ein breit ausgebuchteter Fluss, eine Art Staumauer. Waren die Haifische ausgewachsen, sprangen sie wie Delphine drüber und schwammen im jenseitigen Gewässer in die Freiheit. Ich saß noch dort, am Rand, hoch oben auf meinem Felsvorsprung, und blickte gebannt in diese archaische Landschaft, als ich in die Tageshelle hinüber glitt.

”Ach”, sagt Teiresias später, als ich ihm von meinem Traum erzähle, ”das kommt mir bekannt vor, da warst du heute Nacht gar nicht weit weg von meiner Heimat. Zu diesem See sind wir in meiner Kindheit immer schwimmen gegangen. Eigentlich ein breiter Flusslauf. Auch an die Mauer kann ich mich erinnern, von der wir ins Wasser gesprungen sind. Wunderschön gelegen alles, wie im Bilderbuch. Nur Haifische gab es dort zu meiner Zeit keine.”

Die Zeit hat der Mensch erfunden. Vor ihm gab es keine. Anscheinend hatte er Zeit nötig, im Gegensatz zu allen anderen Kreaturen. Die müssen seitdem in dieser vom Mensch erdachten Zeit leben, ob sie wollen oder nicht.

Der Mann an der Theke, der mir beim fünften Bier erzählt, dass sein Körper, seit seine Frau ihn verlassen hat, komplett verrückt spielt. Bis zu diesem Verlassenheitsmoment hat er ihn nie gespürt. Aber jetzt, ständige Sensationen. Er fühlt sich todkrank, ist ein einziges Nervenbündel, ein Angstwrack. Er ist schon bei vielen Ärzten gewesen, Spezialuntersuchungen noch und noch. Die finden nichts, sagen alle das Gleiche: er sei kerngesund.

Seit gestern denke ich, ich habe genug gedacht, bis auf den einen Gedanken noch, heute.

Ein Trottel, der denkt, es gäbe nichts mehr zu denken, sagt Teiresias, ein Weiser allerdings, der keinem Gedanken nachhängt.

Am besten ist, wenn ich gar nicht mitbekomme, dass ich arbeite. Leider gelingt das nicht oft. Das Beste kann eben nur selten das Beste sein.

Einer zieht in die Stadt, damit er abends mal in die Kneipe gehen kann. Dabei trinkt er nicht und hat auch gar keinen Spaß daran, eine Bar oder etwas ähnliches aufzusuchen. Ausschlaggebend ist, dass er es tun könnte, wenn ihm irgendwann einmal danach wäre.

”Ja, ja”, sagt Teiresias, ”oft ist im Leben die Möglichkeit bedeutsamer, als die Tatsächlichkeit, die Aussicht auf erfüllender, als die Erfüllung.”

Erfahrungsgemäß kommt man dem Mitmenschen entgegen, schafft man es, von sich selbst abzusehen. Was aber, wenn der Mitmensch dazu nicht in der Lage ist?

Nach dem Ableben eines sehr bekannten Malers, der der Nachwelt ein allseits anerkanntes, umfangreiches Oeuvre hinterließ, entdeckte man in seinen Aufzeichnungen folgenden Eintrag: Wenn die anderen wüssten, dass ich gar keine Lust zum Malen habe, dass mich Malen nichts als langweilt, ja abstößt, und ich, wenn ich male, nur auf die halbstündlichen Zigarettenpausen hinmale, die mir meine Gesundheit ruinieren, aber mich immerhin vom Malen abhalten.

Struktur eines Werktags: ich schaue, wie ich die Zeit zwischen den Pausen einigermaßen überstehe.

Wäre ich Komponist, meine Musik würde nur aus Pausen bestehen. Man würde rein gar nichts hören, außer den Pausen natürlich. Aber so bin ich Maler, ein Ortskünstler (im Gegensatz zum Musikschaffenden als Zeitkünstler), der es mit dem Malen von Pausen schwer hat.

Ein Galerist verrät, dass es schlimm sei mit denen, die nur Gucken wollen, aber nichts kaufen. Das würden die auch noch frank und frei zugeben: wir wollen nur mal schauen. Aber zum Teufel noch mal, eine Galerie ist doch kein Museum. Vom Schauen allein könne er nicht existieren und die KünstlerInnen, die er vertrete, auch nicht.

Wäre die Not unter den Kunstschaffenden augenblicklich nicht so groß, würde ich ihnen raten: macht nichts, überhaupt nichts! Überlasst die Gesellschaft ihrem kulturlosen Schicksal!

Heute bist du ja mal wieder ganz schön in Fahrt, lacht Teiresias und steigt leicht verschwitzt vom Ergometer.

Auch als Erfolgreicher kann man ratlos sein angesichts des Erfolgs. Schlimmer aber ist die Ratlosigkeit Erfolgloser, die der Meinung sind, dass sie Erfolg verdient hätten (möglicherweise zu recht).

Darauf Teiresias: ”Die Gunst der Götter ist launisch. Weh dem, dem sie gewährt wird.”

Man müsste im Lauf des Lebens immer schwereloser werden. Man müsste zunehmend an Gewicht verlieren und freier werden, immer freier, bis man am Ende in der Lage ist, wie eine Feder davon zu schweben.

Wer sein Gesicht verliert, verliert nicht unbedingt auch an Gewicht, murmelt Teiresias hinter der Tageszeitung.

Aerosolbedingt sollte man sich nur noch im Freien aufhalten, auch nachts, mit großem Abstand zu Siedlungsgebieten. Wohnen und leben am Busen der Natur. Das könnte ein neuer Trend sein.

Man kann sich auf vieles vorbereiten, nur auf den Tod nicht. Da stößt selbst Improvisation an ihre Grenze.

Weitermachen oder den Löffel hinschmeißen? Man hält sich zurück mit der Beantwortung dieser Frage, inkonsequent, aber verständlich. Man sucht sich schnell eine Beschäftigung. Darüber beantwortet sich die Frage von ganz allein.

Improvisation lernt man durch Improvisieren im Kontakt mit eingeübten Automatismen. Aber je mehr Automatismen man sich aneignet, desto mehr entfernt man sich von Improvisation. Man muss also Automatismen einüben, als handelte es sich um Improvisationen und das Improvisieren zum Automatismus machen.

Ich erreiche nie den Grad an Automatismus, den ich mir wünsche, weil ich, bevor ich diesen Grad an Automatismus erreiche, von etwas Neuem angezogen werde, dessen Aneignung mich daran hindert, den Grad an Automatismus auszubilden, den ich mir ursprünglich gewünscht habe, usw.

Augenblicklich bin ich voll Zorn wie andere anscheinend ängstlich sind. Das müsste mir zu denken geben, handelt es sich doch hier wie dort um bloße Emotionen, wenn auch in unterschiedlicher Ausdrucksgestalt. Etwas mehr Gelassenheit wäre angebracht, zum Beispiel indem ich mir sage: in ein paar Jahren alles Schnee von Gestern.

Die Zukunft ist überhaupt eine tolle Sache, meint Teiresias, weil sie nie so ist, wie man sich das in der Vergangenheit gedacht hat.

Meine Zukunft läuft ab. Meine Vergangenheit stellt die Archivierung ein. Nur noch die Gegenwart kann mir helfen.

Es wird jetzt Werbung gemacht für die einzigartige und unverzichtbare Produktvielfalt von Kunst und Kultur, die ein Reiseveranstalter nicht besser machen könnte. Das hat etwas von Schönwettermachen, ohne dass man mit Sonne rechnet.

Ganz in der Stille leben. Aber was tun mit Ton und Geräusch? Ganz für sich sein. Aber wohin mit den Besuchern?

A. Camus’ Werk durchzieht Poesie. Für politische Belange ist das vielleicht unergiebig, gesellschafts- und individualpolitisch aber sehr wertvoll.

Der Einfall als zufällige Kernkompetenz künstlerischen Handelns.

Die zwei Seiten der Freiheit: von auferlegter Verpflichtung, zu selbstbestimmtem Handeln (das wiederum zur Verpflichtung werden kann).

Möglicherweise kann Schlimmes geschehen im Leben, möglicherweise auch nicht. Wie auch immer, man lebt mit diesem ”möglicherweise”, das so lebensbestimmend, wie hintergründig ist, ob man es sich eingesteht oder nicht.

Heutzutage haben viele Menschen gar keine Zeit mehr für Demokratie, sagt Teiresias und blickt von der Zeitung auf, mit der er sich, gemütlich in den Sessel zurückgelehnt, gerade beschäftigt. Eigentlich nur die, die dafür bezahlt werden. Die anderen, die in zum Teil prekären Arbeitsverhältnissen ihre Zeit zum Broterwerb einbringen müssen und/oder sie allabendlich der narkotisierenden Unterhaltungsbranche zum Fraß vorwerfen, können mit Demokratie eigentlich nicht wirklich etwas anfangen.

Wie es Michel de Montaigne gemacht hat, um nach Jahren politischer Tätigkeit den systemischen Krankheiten des politischen Lebens zu entgehen: ein schreibendes Leben im (Elfenbein?) Turm.

Es bedarf der Informationskontrolle, nicht von staatlicher Seite, sondern durch den einzelnen Bürger. Sichten, prüfen und für glaubhaft erachten. Informationsdiagnostik!

Gestern hat Teiresias im Garten Bärlauch entdeckt. Ein richtiges kleines Bärlauchfeld, gleich hinter dem Schuppen bei den Johannisbeersträuchern. Bärlauch sei ein sehr gesundes Kraut, sagt er mir. Sie hätten immer viel davon gegessen, jedes Frühjahr, circa vier Wochen lang, je nach Witterung. Salat hätten sie von Bärlauch gemacht, ziemlich scharfe Kost, oder ihn in gebackene Fladen eingewickelt und mit knusprig gebratenem Hammelfleisch garniert, auch ein Mus wäre zubereitet worden mit Nüssen und Schafskäse. Seine Großmutter hätte immer gesagt: Wer Bärlauch verzehrt, ist richtig genährt.

Also habe ich Bärlauchpesto zubereitet (was Teiresias’ Oma wußte, weiß ich schon lang). Wir streichen es uns auf geröstete Weißbrotscheiben und trinken dazu, zur Besänftigung der Schärfe, einen fruchtigen Muskatteller.

Objektive Wissenschaft (im Allgemeinen wie im Besonderen) fokussiert immer nur so gut wie der Mensch, der fokussiert, meint Teiresias. Unschärfe und Fehlbelichtung sind da an der Tagesordnung.

Man kann das Internet als trostlose Müllhalde betrachten, als ansprechendes Kommunikationsmittel und/oder als umfangreiches Wissensarchiv. Was man je daraus macht, bleibt einem selbst überlassen, auch was man selbst dazu beiträgt (wie im richtigen Leben, man bestimmt Tun und Lassen selbst).

Man gedenkt der Opfer, das immerhin. Aber gestorben wird allein, ohne Angehörige.

Fantasie vermag manch trister Lebensrealität etwas Glanz zu verleihen.

In der Kunst verlangt Realismus subtile Bearbeitung.

Im Traum einmal mehr die ewige Geliebte meines Lebens. Sehen konnte ich sie nicht, aber ich spürte die Dichte ihres Wesens neben mir. Was für eine Anziehungskraft, was für ein Sehnen. Und dann das schmerzliche Abschiednehmen in die Tageseinsamkeit hinein.

Warum ich Albert Camus schätze? Er verbirgt seine schriftstellerischen Unvollkommenheiten und Schwierigkeiten nicht, bleibt dabei gefühlsecht, herzlich und beherzt.

„Du solltest lernen mehr rückständlich zu denken und zu handeln“, verrät mir Teiresias zwischen zwei Röstbrotscheiben. „Bei allem und jedem musst du dich fragen: was bleibt davon zurück. Ziel: ein möglichst rückstandsfreies Leben. Dein Körper ist ein gutes Vorbild. Wird er einmal hinüber sein und du im Jenseits, bleibt nichts als ein Häuflein Staub. Erde zu Erde ungefähr.“ Und kauend fügt er noch an: „nicht eine Abfallwirtschafts-, sondern eine Zerfallskultur, das wär’s.“ „Gut und recht“, sage ich, „aber was wird aus meinen künstlichen Hüft- und Kniegelenken, Stents und all dem anderen?“

Kunst und Kultur, gemeinschaftsbildend, Sinn stiftend, Herzensangelegenheit!

Ich bin kein Querdenker, aber ich denke quer, kreuz und quer.

Kindheiten werden von Kindheitsgeneration zu Kindheitsgeneration andere. Das einzig Verbindende: das Bedürfnis nach Kindheit.

Lebensregel: in Gesellschaft möglichst nicht über Misserfolg(e) sprechen. Höchstens mit sich selbst, aber dann wohl dosiert (mögliche Absturzgefahr!).

Man muss diese gern gestellte Frage ”wie haben sie denn das gemacht” nicht unbedingt beantworten. Und so unangenehm sie ist, deutet sie vielleicht in ihrer etwas beschränkten Unbedarftheit auf etwas ganz und gar Wunderbares: wie geheimnisvoll der Umstand ist, ein Kunstwerk, ein Bildgeschöpf, vor sich zu haben und sich nicht erklären zu können, wie es zu ihm gekommen ist.

Manch einer fühlt sich fit und schaut verwundert auf sein Alter. Gewiss, Bäume reißt er nicht mehr aus, aber pflanzen könnte er noch einige (denkt er sich und erliegt vorübergehend juveniler Illusion). Sorgen machen körperliche Minisensationen. Jede kleinste Veränderung gibt Anlass zu pathologischen Vermutungen. In der Summe mehr Angst als Verstand.

Der Gesundheitswahn der Gegenwart. Jeder Genuss ein potentieller Schadensverursacher. Fast unmöglich, das Gute im Genuss zu sehen.

”Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen das Altwerden, ich will nur nicht alt werden, jedenfalls nicht so schnell”, sagt Teiresias und dreht seine morgendliche Joggingrunde, für die ich ihm sündhaft teure Laufschuhe spendiert habe (übrigens die einzigen Schuhe, die er trägt neben seinen antiken Sandalen).

”Beziehungsmäßig lebt ihr heutzutage in einem ganz schönen Dilemma”, meint Teiresias und blickt aus einer Broschüre auf: ”Familie und Welt”, der Titel. ”Männer mögen keine Frauen, die nur Beruf und Karriere im Blick haben (und ihnen am Ende noch Konkurrenz machen), was sie sich aber nicht anmerken lassen, und Frauen mögen keine Männer, die allzu verständnis- und liebevoll daher kommen, auch wenn sie genau das nach außen hin zu bekunden scheinen, statt ihrem Wunsch nach dem starken Mann nachzugeben. Mann und Frau leben bei euch verständnislos nebeneinander her, rundum aufgeklärt, natürlich selbstständig und vor allem selbst- und geschlechtsoptimiert, sehnen sich aber im tiefsten Winkel ihres Herzens nach den alten Verhältnissen männlichen Versorgens und weiblichen Versorgtwerdens.
”Na”, lieber Teiresias, ”da erlaube ich mir zu widersprechen, da scheinst du mir doch, was die Beziehung von Mann und Frau anbetrifft, hängengeblieben zu sein in deinen frühen Jahren, die mit unserer gegenwärtigen Lebenssituation nicht das Geringste mehr zu tun haben. Auf kurzen Nenner gebracht: Man will sich gegenseitig (wie zu allen Zeiten), whatever sex and anything goes.”
”Du musst es ja wissen”, zuckt Teiresias mit den Schultern und zieht sich missmutig in seine Bildecke zurück.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau bemisst sich an der Frage, wer das Klo putzt, auch dann, wenn eine Putzfrau diese Arbeit übernimmt.

Neulich sagte mein Enkelkind hinter meinem Rücken: ”Also eins muss man ihm lassen, Opa kann wirklich gut malen.” Das hat mich dann doch ungemein beruhigt, denn ich dachte bereits, dass das niemandem auffällt.

Der Verlust an unverfälschtem Leben folgt der Verfeinerung der Lebensverhältnisse. Also wieder etwas gröber werden!

Es nimmt einige Zeit in Anspruch, bis sich Farbe und Form in einem Gemälde soweit verdichtet haben, dass der Eindruck entsteht, das Bild könnte sich von seiner materiellen Gegebenheit lösen und zu einem Eigenleben finden. Dosiert zwar, doch in ausreichendem Maße, muss Farbmaterie bewegt werden und Form entwickelt.

Man ist schon froh, wenn die Dächer der umliegenden Häuser morgens nicht mehr mit Reif bedeckt sind. Man nimmt das - obwohl man das Gegenteil oft genug erlebt hat - als Zeichen der herannahenden, warmen Jahreszeit und täuscht sich wie jedes Jahr.

Lausig kalt bei euch, meint Teiresias, rein wärmetechnisch war’s in der Unterwelt angenehmer.

Er war ein Sorgenkind, bis er anfing, sich um Kinder zu sorgen.

Vor dir hab’ ich keine Angst, sagt der Tod, als er sich mal wieder prüfend im Spiegel betrachtet. Mir kann so gut wie nichts passieren, außer dass das Leben mir vorübergehend einen Strich durch die Rechnung macht.

Askese ist auch ein Weg, vor allem für Sünder, sage ich. Darauf Teiresias: „Askese ist nur etwas für Asketen, nicht für Sünder. Und überhaupt, was ist Sünde? Eine menschliche Verfehlung (in möglicherweise ungeahntem Ausmaß), von Mensch zu Mensch angelastet und strafbar gemacht. Außerhalb menschlicher Zusammenhänge gibt es keine Sünde (was kein Freibrief für Mord und Totschlag ist).

Teiresias ist der einzige, der keine Maske trägt. Interessanterweise nimmt niemand Anstoß daran. Dabei hat Teiresias überhaupt nichts gegen das Tragen einer Maske. Er findet meist nur den Zeitpunkt unpassend, die Aufmachung langweilig und einfallslos. Und dann noch für alle!, sagt er. Wo bleibt denn da der offenbarende Bezug? Und schau’ dir an, wie sie die Maske tragen, ohne Sinn und Verstand. Man könnte meinen, es ginge nur um Schutz.

In manch gut situierten Verhältnissen bemisst sich die Größe des Unglücks an der Nichtigkeit der Ereignisse.

Was gibst’s heute zu essen, fragt mich Teiresias beim Frühstück (was er sonst nie tut). Und als ich ihn etwas fragend anblicke, teilt er mir mit, er habe heute Geburtstag. Als Mann von (Unter)Welt hast du doch überhaupt nie Geburtstag, sage ich. Darauf er, doch, heute schon. Also gut, lenke ich ein, wie wär’s mit einer leckeren Bärlauch-Quiche, dazu ein frischer Salat aus Radicchio und Birnen an Feigensenf-Honig-Dressing, begleitet von einem meerwinddurchsetzten Weißwein aus den Hochlagen Siziliens. Das klingt gut, meint Teiresias, mir läuft schon jetzt das Wasser im Mund zusammen. Sag’ mal, wie alt wirst du eigentlich?, frage ich ihn. Und er: wenn ich das nur wüsste. Wie wär’s denn mit 66, schlage ich vor. Teiresias überlegt kurz, bevor er antwortet: 47 wäre mir lieber, da sei man schon ein wenig (alters)weise, aber in der Regel noch gut in Schuss.

Das Leben als Skizze betrachten, als Skizze, die zum Ausdruck bringt, dass es ein großes Gemälde nicht geben wird. Auch so etwas Besonderes, flüchtig wie standhaft: Leben, das seine Skizzenhaftigkeit nie verliert.

Das zart verschleierte Licht dieses Morgens, das ihn teilt in Aussicht und Einsicht.

Dummheit schützt vor Torheit nicht, meint Teiresias beiläufig, aber Gescheitheit auch nicht unbedingt.

Unangenehm, diese vorgeblichen Vernunftmenschen, die sich in ihrer ach so logischen Argumentation widersprechen (scheinbar ohne es zu merken), denke ich, und Teiresias, der meinen Gedanken mitverfolgt hat, meint: ”Die gab es zu allen Zeiten, aber solange sie nicht den Ton angeben, kann es dir egal sein.”

Wenn jemand nur sich und seine eigenen Belange im Blick hat, und es sich dabei um den eigenen Bruder handelt, macht das die Gesprächssituation nicht erträglicher.

Wer sagt denn, dass sich Geschwister verstehen müssen, raunt mir Teiresias zu. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man sich einigermaßen grün ist in der Familie. Selbstverständlich oder gar zwingend vorgesehen ist das nicht.

Dass man sich aus den Augen verliert, kann passieren. Manchmal liegt das einfach an der jeweils unterschiedlichen Entwicklung des Lebensgeschehens. Man sollte dann nicht festhalten an etwas, das es vielleicht nie gegeben hat und das landläufig Beziehung genannt wird.

Niemand kann sich einem anderen ohne dessen Einverständnis annähern.

Dummheit ist so offensichtlich nicht, murmelt Teiresias (während seiner Zeitungslektüre). Sie verbirgt sich manchmal an ungeahnter Stelle, zum Beispiel in der einfachen wie erschütternden Tatsache, dass im Augenblick zu viele Menschen glauben, was man ihnen sagt.

Wenn am Ende zwischen zwei Brüdern nichts anderes bleibt, als der jährliche, kurze Geburtstagsgruß per Telefon, eine halbe Stunde Verwandtschaftsposse mit einem Redner in eigener und einem Zuhörer in fremder Sache.

Die Wahrheit kommt immer ans Licht, beharrt Teiresias mit strengem Blick und klopft mal wieder deutlich vernehmbar mit seiner Hand auf den Tisch, es ist nur eine Frage der Zeit, wann dies geschieht und wieviel Porzellan zwischenzeitlich zerschlagen wird. Nach ungefähr 3000-jähriger, religions-philosophischer Vergangenheit müsste sich das eigentlich rumgesprochen haben. Aber es gibt immer noch Unbelehrbare, die meinen, sie könnten die Wahrheit einfach unter den Teppich kehren.

Wahrheiten, die das Leben am meisten be- und erschweren, sind ganz und gar profane. Deshalb leidet der Mensch, laut Teiresias, vor allem an den verrückten Details seiner eigenen Alltagswirklichkeit, denen er meist ratlos und handlungsunfähig gegenüber steht. Nichts ist schwerer zu ändern als man selbst.

Als man ihn auf den Rücken drehte, war nicht sofort zu erkennen, ob er noch am Leben war oder nur sturzbetrunken. Fakt war, dass er regungslos auf der Seite gelegen hatte, als man ihn fand, mit dem Rücken zu Straße, wie um zu demonstrieren, dass er mit denen da, die shoppend durch die Fußgängerzone zogen, aber auch nicht das Geringste mehr gemein habe. Kurios irgendwie, dass sein Kopf auf einer Flasche lag, ganz so, wie ein Kopf normalerweise auf einem Kopfkissen liegt. In diesem Fall bestand das Kissen aus anderthalb Litern Orangenlimonade eines handelsüblichen Herstellers. Aus den Seitentaschen des prallen Rucksacks, der an der Schaufensterwand lehnte, lugten zwei volle Wodkaflaschen. Kalt war es gewesen. Schnee und Graupel waren durch die Gasse gefegt. Darin der durchnässte Mann, ein lebloser Körper. Die Flocken und Eisstückchen, die auf ihn niedergingen, spürte er nicht mehr, würde er nie mehr spüren.

Etwa 15 Störche stehen im Betonabteil eines Müllentsorgungsgeländes vor gelben Säcken, als warteten sie auf die neue Lieferung. Storchfütterung mit Resten der Überflussgesellschaft. Gesund kann das nicht sein.

Als ob die Menschen der angeblichen Pandemie keine sonderliche Bedeutung mehr beimäßen, befinde ich mich in einem dicht besetzten ICE, wie in guten alten Zeiten. Nach über einem Jahr Corona-WirrWarr kann man durchaus von alten Zeiten sprechen.

Die Bedeutung des Nichtstuns liegt im Nichts, nicht im Tun.

Der Andere ist immer der Gleiche, wie ich, aber doch anders, genau wie ich.

Entfremdung, ein schlimmes Phänomen und immer ein schleichender Prozess, zunächst kaum merklich, wenn auch irgendwie geahnt, nun nicht mehr zu verheimlichen. Ein Allgemeinbefund.

Man kann nie genug wissen, sagt jemand und schaufelt Wissen in sich hinein bis zum Gehtnichtmehr. Dann ist das Leben plötzlich vorbei und er hat nicht gewusst, dass das so schnell gehen kann.

Man muss nicht unbedingt viel wissen, sagt Teiresias, aber man sollte wissen, was zu wissen sich lohnt.

Einer bekommt einen Brief von einer Person, die er nicht kennt, die aber ihn zu kennen scheint. Was er, der eine, denn so treibe, und dass er schon lang nichts mehr habe von sich hören lassen. Er selbst, der Schreiber, inzwischen mit Frau, drei süßen Kindern und Anwesen im Grünen, sei kürzlich befördert worden, Sektionschef nun, hohe Position, viele Angestellte unter sich. Da hätte er natürlich viel um die Ohren, aber nicht so viel, dass man sich nicht mal wieder treffen könnte. Alte Zeiten aufleben lassen in der Stammkneipe. Er solle sich doch melden. Auf dem frankierten und abgestempelten Briefkuvert findet sich kein Absender, auch keine Telefonnummer inseitig. Die Unterschrift ist unleserlich. Der Eine weiß nicht im Geringsten, wer ihm da geschrieben hat. Dann fällt ihm seine Handschrift auf.

Wer rastet, der rostet. Diese andauernde Aufforderung sich zu bewegen. Fast schon zwanghaft. Man weiß das ja, aber man kennt sich doch. Man will sich im Grunde genommen überhaupt nicht bewegen. Man möchte nicht fortkommen. Es soll alles so bleiben wie es ist, für immer und ewig. Das wäre schrecklich schön.

Wann kommt eine Welle zur Ruhe, fragt mich Teiresias.