Oct 2021

Gibt es so etwas wie Schönheit des Alters und wie könnte man ihr angemessen gerecht werden?

Die Existenz erhält man geschenkt (ungefragt), die Essenz muss man entdecken und bewahren.

Teiresias schließt sich an: es hänge maßgeblich von einem selbst ab, wenn auch nicht restlos, was je das eigene Dasein bestimmt. Erfahrungsgemäß wird mehr Wert auf Attribute der Existenz als auf essentielle Qualität(en) gelegt.

Unkünstlerischen Naturen mangelt es an Ausschweifungskompetenz. Sie sind zu korrekt gesinnt, als dass eine Übertreibung statthaft ist. Was sie im Kunstkontext nicht auffassen können, kann sie auch im gewöhnlichen Leben nicht gefährden. Sie suchen unbewusst die sichere und sind auf der sicheren Seite.

Es ist die Pflicht des Menschen sich zu kümmern, meint Teiresias, die Frage ist nur worum.

Künstlerische Tätigkeit ist nur akzeptabel, wenn sie in der Lage ist, die Existenz zu sichern. Ansonsten handelt es sich um brotlose Kunst. Meines Wissens hat noch niemand untersucht, wie viel brotlose Kunst in den Museen zu sehen ist.

Zum Beispiel Albert Camus: ”… Ich verlange nur eines, und ich verlange es bescheiden, obschon ich weiß, dass es exorbitant ist: mit Aufmerksamkeit gelesen zu werden.” (Albert Camus, Tagebuch 1951 - 1959, Rowohlt Verlag, S. 102)
Ich selbst könnte es nicht besser formulieren, würde nur das Verb ”gelesen” durch betrachtet ersetzen, wobei man in Bildern durchaus auch lesen kann.

Bejahe ich mich rückhaltlos, gerate ich unweigerlich in Opposition.

Es existieren einige Erzählungen über mich und vor allem über die Ursache meiner Blindheit, erzählt mir Teiresias, als wir am Abend mit Brot, Wein und Käse gemütlich beieinander sitzen. Alles Erfindungen. Fake-News würde man heute sagen. Die verrückte Geschichte mit den zwei Schlangen und Zeus und Hera kennst du ja bereits. Eine andere Überlieferung lautet folgendermaßen: angeblich hätte ich der göttlichen Athene im Wald aufgelauert, an einem stillen Weiher, in dem sie zu baden pflegte. Ich hätte sie beim Baden beobachtet gleich einem Voyeur. Sie hätte dies entdeckt und mich zur Strafe mit Blindheit geschlagen. Das ist natürlich blanker Unsinn.
Was meine Augen anbetrifft? Ich bin früh an Grauem Star erkrankt, ganz einfach. Diese Augenkrankheit, heute gut mit einem operativem Eingriff zu behandeln, konnte man zu meiner Zeit noch nicht heilen. Sie führte bei mir zur Erblindung.
Und Athene? Ich bin ihr tatsächlich über den Weg gelaufen damals an besagtem See und es war Liebe auf den ersten Blick, von beiden Seiten. Wir schauten uns in die Augen und lagen uns in den Armen, als ob wir uns schon immer gekannt hätten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell wir unsere Kleider abstreiften und übermütig ins Wasser sprangen. Und nachher fielen wir übereinander her wie zwei liebestolle Eichkätzchen im Frühling. Eine ausgesprochene Schönheit war Athene zwar nicht, aber ein prachtvolles Weib, das mit beiden, zugegebenermaßen etwas stämmigen Beinen auf der Erde (und im Himmel) stand, bewundert, ob ihres klaren Verstands und ihrer Unbestechlichkeit. Sie gefiel mir einfach, was gibt es mehr zu sagen, wenn man verliebt ist. Natürlich durfte niemand von unserer Verbindung wissen. Stell’ dir den Skandal vor: Göttin verkehrt mit jugendlichem Schafhirt. Da kam uns das Gerücht mit dem Voyeurismus gerade recht, auch wenn mir diese Verleumdung peinlich war. Als ich später den Beruf des Sehers ergriff und in Theben in Amt und Würden kam, rückte unsere Beziehung in ein etwas standesgemäßeres Licht. Als Seher mit einer Göttin zu verkehren, war beruflich notwendig und erregte kaum Aufsehen.

Was man hat, wenn man nichts hat, oder fast nichts …

Wie jeden Morgen geht das Dunkel der Nacht fast unbemerkt über in etwas, das mehr ein Versprechen ist, als Tatsächlichkeit des anbrechenden Tages. Dieses merkwürdige Zwielicht als Grau zu bezeichnen, wäre zu einfach. Tagesgrau, Nachtgrau, was soll das sein?

Keuschheit und Laster, überdosierte Botenstoffe der Lust (eines lustvollen Lebens).

Zumeist ist die Dunkelheit heller, die Helligkeit dunkler als angenommen, sagt Teiresias.

Wie manche Menschen es schaffen, sich über politische Verhältnisse hinwegzutäuschen, nicht das zu sehen, was zu sehen wäre, sondern das, was ihnen aus irgendeinem, vielleicht verständlichem, aber keinesfalls hinreichendem Grund beliebt.

Wer nicht lebt, hat auch nichts zu befürchten, wer etwas zu befürchten hat dagegen, lebt zwar, aber nicht besonders gut, meint Teiresias.

Einem Hobby geht man in seiner Freizeit nach, das heißt vor oder nach Dienstschluss, oder im Ruhestand. Wird aus einem Hobby tägliche Arbeit, ob man nun damit Geld verdient und seinen Lebensunterhalt bestreitet oder nicht, kann es sich zum Beispiel um eine künstlerische Tätigkeit handeln.

Künstlerische Arbeit ist Sein. Sie vollzieht sich aus Daseinsschritten, jeder Schritt für sich. Ein ausschließlich historischer Blick täuscht über diesen Aspekt hinweg, er richtet sein Augenmerk auf Kunst, das Gewordene, möglicherweise seit langem Bestehende, weniger auf das künstlerische Procedere, das Schrittweise eben.

Auf gar keinen Fall soll sein Familienname sich forttragen. Das wird er zu verhindern wissen. Den Namen einer Familie weiterzugeben, die ihn nicht will, wäre auch etwas zu viel verlangt. Sollte er Kinder haben, werden sie den Namen der Mutter tragen, auf keinen Fall seinen. Einen neuen Namen wird er sich geben, seinen ganz eigenen, einen, der mit seiner Ursprungsfamilie rein gar nichts mehr zu tun haben wird. Das ist er sich schuldig (schon aus beruflichen Gründen), auch wenn andere dies als befremdlich empfinden werden. Aber das kann ihm egal sein.

Farben auf und in der Bildfläche so behandeln, dass sie körperhaft werden, nicht unbedingt plastisch, aber doch so farbsatt, dass sie sich fast aus der Fläche heraus zu bewegen scheinen.

Viele gehen nur weg, um zurückkehren zu können. Würden sie nicht zurückkommen wollen, müssten sie auch nicht weggehen. Diejenigen, die nicht zurückkehren wollen, gehen nie weg oder endgültig, d.h. für immer.

Sich geschickt zu wissen, bedeutet nicht, dass man andere davon überzeugen muss, dass man sich geschickt weiß, sagt Teiresias zu mir. Die/der Geschickte lebt mit ihrem/seinem Geschick. Bin ich nicht lernfähig in Sachen Emanzipation, schmunzelt er mir zu.

Übrigens, fügt er noch an, der Rotwein vorgestern Abend, das war der Hammer. Wo hast du denn den erstanden? Im Bioladen, antworte ich, stammt von einer Kooperative aus Italien. Körperreichtum und Spiritualität in einem exzellentem Zusammenspiel.

Eine jammert unaufhörlich über die ihm über den Kopf wachsenden Verpflichtungen, tut aber alles, um noch mehr verpflichtet zu sein.

Wer ungute Verhältnisse befeuert, darf sich nicht wundern, wenn er sich die Finger verbrennt, meint Teiresias.

Teiresias ist blind (heißt es der Überlieferung nach). Er kann aber auch sehen (ist mein Eindruck). Was er jeweils ist, blind oder sehend (oder beides gleichzeitig), fällt selbst mir, seinem Gastgeber, schwer zu erkennen. Ich kann ihn sehen, selten aber durchschauen. Er dagegen durchschaut mich immer (was mir mitunter unangenehm ist). Aber ob er mich auch immer sieht? Auf jeden Fall sieht er die Rotweinflasche auf dem Küchentisch, denn er fragt mich mit unverhohlener Vorfreude, ob wir die heute Abend leeren wollen.

Zum Beispiel, sagt Teiresias, würden die Götter (die es nach seinem Dafürhalten gar nicht gibt, Anm. des Verf.) dafür sorgen, dass einen die Wahrheit nie im Stich lässt. Im Stich gelassen würde man von Menschen, auch solchen, die vorgeben die Wahrheit zu kennen oder völlig ahnungslos sind.

Was man verurteilen muss, hat man noch nicht vollständig oder über alles Maß hinaus beurteilt.

Da ich mir selbst immer wieder Vertrauensvorschuss gewähre, kann ich ihn anderen nicht vorenthalten.

Natürlich geht Vorteilsnahme gar nicht, aber man wäre doch schön blöd, sie auszulassen. Was ist denn bitte schön verwerflich, an sein Fortkommen zu denken?

Irgendwann wird das eigene Leben zur Unmöglichkeit (was nicht bedeutet, dass es dann unmöglich wird). Man erkennt, dass man vergeblich gegen sich anrennt und muss sich eingestehen, dass man sich selbst unterliegt. Das ist wohl das ”Tat Tvam Asi” des Ostens.

Genau das ist es, pflichtet mir Teiresias bei, ob einem das nun gefällt oder nicht.

Habe ich das schon geäußert, dass in künstlerischer Hinsicht nichts ohne Leidenschaft geht?

Der wahre Ruhestand besteht darin, zur Ruhe im Stande zu sein. Seit ich mich im Ruhestand befinde, mache ich weiter wie bisher und werde immer ruhiger.

Das Durcheinander an meinem Arbeitsplatz. Gestern sagte mir die Unordnung noch etwas, heute nicht (mehr). Ich wische alles vom Tisch und bekomme einen alten, ausgefransten Pinsel zu fassen. Den schwinge ich jetzt über die Bildfläche, wie ein Straßenkehrer seinen Besen. Wenn ich male, schaffe ich Ordnung, das muss sein.

Auf gar keinen Fall werde ich mich jetzt erheben. Ich rühre mich nicht von der Stelle, um keinen Preis der Welt. Klammheimlich oder für alle erkennbar bleibe ich sitzen, völlig unbekümmert, was für einen Eindruck das macht. Ich werde mir nicht einmal einreden müssen, dass es nichts Lohnendes gibt, das mich zum Aufstehen bewegen könnte. Sollte ich mich überhaupt noch einmal rühren, dann nur, um die Sitzposition zu ändern.

Dem Genie ist es egal, ob es erfolgreich ist oder nicht, aber Erfolglosigkeit hat selten etwas Geniales an sich und der Erfolg selbst nur bei genauerem Hinsehen.

Leere der Zeit lässt sich nicht einfach füllen, sie erfüllt sich.

An sich ist die Zeit nicht leer, sagt Teiresias, aber der Mensch plündert sie aus.

Gewissheit ist die Kehrseite des Zweifels. Davon gilt es sich zu überzeugen.

”Du kannst immer missverstanden werden”, höre ich Teiresias sagen, der sich in die Zeitung vertieft hat, ”egal, was du von dir gibst, und erst recht, wenn man dich missverstehen will. Selbst wenn du nichts sagst, erscheinst du missverständlich, was soviel heißt wie zwielichtig.”

Einmal im Rampenlicht stehen, unzählige Follower haben (wahrscheinlich ebensoviele Neider). Ein wenig nur berühmt sein, wäre das nicht schön?

Schön und ein Fluch, höre ich Teiresias murmeln. Und dann fügt er noch an: das einzige Berühmtsein von Gültigkeit, ist jenes, für das man nicht die Bohne getan hat. Nimm’ mich, meine Berühmtheit - und sie war weiß Gott kein reines Vergnügen - verdanke ich den Göttern.

Runtermachen könnte ich mich, unaufhörlich, bis ich auf Normalgröße geschrumpft wäre. Dann könnte ich aufgehen im Mittelmaß allgemeiner Größe, endlich.

Wenn alle gesehen werden wollen, kann man sich als jemand, der nicht gesehen werden will, bestens verbergen.

Ich mache mir nichts aus mir. Ich stelle überhaupt keine Ansprüche an mich, geschweige denn, dass ich Erwartungen hätte. Für Außenstehende muss das zum Verzweifeln sein.

Ich träume von der Mobilität der Stille, ich verharre in universellem Auftrag.

Es gibt Wahrheiten, die bringt man nicht über die Lippen, auch sich selbst gegenüber nicht, mir fällt nur gerade keine ein.

Ich könnte mich nützlich machen, aber ich habe überhaupt keine Lust dazu. Nutzlos bewege ich mich von Ereignis zu Ereignis und habe auch davon keinen Nutzen.

Für alles und jedes Verantwortung tragen, nur für sich selbst nicht, ist verantwortungslos.

Ich bin der Einzige, der sich vor mir selbst in Acht nehmen muss.

Man kann ja nicht lieben, wenn man unsterblich ist, meint Teiresias, man hat ja keine Ahnung von Trennung.

Wenn ich es wollte, war ich dazu nicht in der Lage, war ich dazu in der Lage, wollte ich es nicht, sagte sich der alte Maler, als er sein letztes Bild fertig stellte. Ist das die Essenz eines ganzen (Maler)Lebens, dass ich mich damit habe vertraut machen können?

Ich habe wenig Begabung zur Ruhe (”sitz’ doch mal still” oder „das Kind hat ja Bremsen im Hintern“, das waren geflügelte Wort meiner Kindheit). Das hat heute nicht unbedingt mehr etwas mit äußerlich erkennbarer Aufgeregtheit zu tun, eher mit einem inneren Bewegtsein im Zusammenspiel innerer und äußerer Beeindruckungen. Dabei kann ich mich kaum zu etwas aufraffen, lebe quasi tatenlos. Das ist bedauerlich. Meine Ruheunfähigkeit belastet mich in zweierlei Hinsicht: einmal sensationell, einmal reaktiv. Und ich werde dem nicht Herr.

Niemand weiß, wer er ist, sofern er nicht akzeptiert, dass es sich um ihn selbst handelt.

”Lazy Sunday afternoon-a”, ein Popsong seiner Jugendzeit, den er zwar nicht besonders mochte, der aber in seinem Titel (und vielleicht auch im Text, aber das weiß er nicht und hat ihn auch nie interessiert) genau das zum Ausdruck zu bringen schien, was er sonntäglich-nachmittags erlebte: gähnende Langeweile. Heute erinnert er sich, wodurch er dieser seelischen Ödnis zumindest zeitweise entkam: mit Lesen. Richtiges Lesen, grundlegendes Lesen, hat er an diesen, sich scheinbar ins Unendliche dehnenden, faulen und trägen Sonntagnachmittagen seiner Jugendzeit gelernt.

Ich drücke mich in meiner künstlerischen Arbeit aus, nicht um mich zum Ausdruck zu bringen, sondern weil ich sehen will, was und wer da noch in mir steckt. Ich male nicht ausschließlich aus mir und für mich, obwohl immer ich es bin, der malt.

Meist stehe ich mir im Weg, bis auf die eher seltenen Momente, da ich mich fast in Luft auflöse.

Der künstlerische Schaffensprozess als anhaltendes Personalentwicklungsgespräch (was für ein Wortungetüm!).

„Als ich jung war, saß ich einmal mit einer schönen Frau in einem einfachen Restaurant, direkt an der Kaimauer eines südlichen Hafens“, erzähle ich Teiresias, als wir mit einem Glas Wein abends vor dem Feuer sitzen. „Du wirst diesen Ort vermutlich kennen. Ein paar einfache Holztische und Hocker, einige übereinander gestapelte Kühlschränke für Fisch und Wein, und eine Bretterbude, in der gekocht wurde. Der Besitzer höchstpersönlich, zugleich der Koch, suchte uns einen besonders schmackhaften Fisch aus. Den briet er dann auf seinen alten, etwas verbogenen Holzkohlengrill und brachte ihn anschließend mit Zitrone, Olivenöl, grob geschnittenen Tomaten und Gurken, Weißbrot und einem herben Weißwein zu Tisch. Vermutlich der beste Fisch, den ich je gegessen habe. Die einfache Köstlichkeit dieser Speise, dieses genussvollen Abends, spiegelte sich im verliebten Blick meiner Begleiterin, den ich in mich aufsog wie die letzte Sonnenglut, die sich über den Horizont zu senken begann.“ „Klar, kenn’ ich“, lacht Teiresias, „da war ich jahrelang Stammgast, leider nicht immer mit einer schönen Frau.“

Glück ist nicht dazu da, es zu genießen. Will man es genussvoll auskosten, fällt alles Glück von ihm ab.

Man hat mehr zu tun, als einem Recht sein kann, will man rechtschaffen leben.

Zu viel Kopf, zu wenig Herz, zu viel Bauch. Der Wohlstandsmensch der Gegenwart.

”Also mach’ dir da mal nichts vor”, schaltet sich Teiresias ein, ”von wegen Gegenwart, diese Leute gab es auch zu meiner Zeit. Weh’ dem Gemeinwesen, in dem sie die Mehrheit hatten.

Die Quelle der Zeit ist ohne Anfang und ohne Ende. Irgendwo dazwischen ist sie aufgehoben und freut sich ihres Lebens und wartet auf Besuch.

Die Uhr, die ich am Handgelenk trage, zeigt mir einerseits die Zeit an (was zuweilen ganz nützlich ist), andererseits ist sie sichtbares Symbol zeitlicher Entfremdung.

Teiresias meint, der Mensch hätte früher viel Zeit gehabt, obwohl ein durchschnittliches Menschenleben kaum mehr als 40 Jahre umfasste. Demgegenüber hätte der Mensch heute kaum Zeit und das auch noch bis ins hohe Alter.

Ist ein sinnloser Tod nicht der, mit dem man nichts anderes verbindet, als das, was er ist, Tod, Ende, Aus? Und hängt, was ihn vielleicht sinnvoll erscheinen lassen könnte, nicht maßgeblich von einem selbst ab?

Der gute Tod nimmt nicht allein gnädig aus dem Leben, er zeigt sich darin erkenntlich.

Nur im Notfall, wenn es gar nicht mehr anders geht, verschafft sich Glück Raum (und das auch nicht in jedem Fall). Ansonsten ist man gut beraten, ihm ohne großes Aufsehen Platz zu machen.

Ach, was heißt hier schon Glück, sagt Teiresias, lass’ uns über etwas Glücklicheres sprechen, zum Beispiel über das Unbekümmertsein.

Wenn Worte in das zu Schreibende fallen wie reifes Obst (ins Gras).

Ein Unglücklicher, der sein Dasein ablehnt, ohne es verlassen zu können, ein Glücklicher, der es verlassen könnte, ohne es je hätte ablehnen zu müssen.

Mit einem Mensch, der bedingungslos liebt, ist schwer auszukommen, auch wenn scheinbar gerade in dieser Liebe Auskommen gründet.

„Was glänzen will, darf den Schein nicht missen“, meint Teiresias, „bloßer Schein allerdings ist ohne Glanz.“

Was bedeutet Wachstum? Was haben Wachstum und Entwicklung miteinander zu tun? Was ist das Gegenteil von Wachstum? - Verfall, Abbau, Zerstörung, Auflösung, Tod?

Ich stelle mir vergeblich vor (denn ich halte es für unvorstellbar in dem Land, in dem ich lebe), hohe religiöse Würdenträger hätten alle einflussreichen politischen Positionen besetzt und würden - gemäß ihres Glaubensdogmas - die Belange des Staates und der in ihm lebenden Bevölkerung bestimmen.

Erkenntnis verpflichtet, sagt Teiresias, auch wenn die wenigsten Menschen in der Lage sind, ihrem Erkennen voll und ganz Rechnung zu tragen.

Sisyphus fährt heutzutage Seilbahn und aus dem Felsbrocken, den er einst mühsam bergauf stemmen musste, ist ein tragbarer, geradezu zarter Findling geworden, der bequem in seine Hosentasche passt.

Komme ich morgens, noch etwas schlaftrunken, in die Küche, sitzt da meist schon Teiresias (fast wie ein beflissener Büroangestellter an seinem Arbeitsplatz), vor sich einen ”Coffee to go” (woher auch immer), und sinniert. Auf meine Frage, was er da mache, antwortet er, dass er die Tagesanforderungen durchgehe, dass er die heute anliegenden Aufgaben sortiere und im Kopf einen Plan zu ihrer zeitnahen Erledigung erstelle. Dabei hat er doch gar nichts zu tun, denke ich mir und hoffe, dass es ihm entgangen ist.

Eines Tages fragte man ihn, wie er sich in und zu seiner künstlerischen Arbeit motivieren würde, ob er da irgendeine spezielle Strategie hätte. Er packe schlechte Laune, Langeweile und sonstige Hemmungen am Schopf, stecke sie in eine Tasche und stelle sie abseits. In Enge und Dunkelheit würden sie sich gegenseitig das Leben schwer machen. Solange könnte er in Ruhe arbeiten.

Ein Gottesstaat ist immer ein Staat orthodoxer Machthaber.

Schon erstaunlich, was in einem Haushalt alles am Stromnetz hängt. Das merkt man erst, wenn der Strom ausfällt und man stundenweise ganz allein ist mit sich und den nicht funktionsfähigen Gerätschaften.

Fraglich, ob Konfessionen zum Frieden in der Welt beitragen können, fraglich auch, ob eher nicht. Vielleicht dann, wenn es keinen Unterschied mehr macht, ob man an den eigenen oder den fremden Gott glaubt.

Abends verabschiedet sich Teiresias. Er bleibt nur ausnahmsweise über Nacht. Wo er seine Nächte zubringt, ich weiß es nicht. Vermutlich im Jenseits, in der Unterwelt, im Hades. Dort hat er ja ein Zimmer, eigentlich eine Höhle, sehr bequem, fast luxuriös, wie er mir einmal verraten hat. Er lebt in mindestens zwei Welten, in jedem Fall in einer Ober- und einer Unterwelt. Das stelle ich mir anstrengend vor. Ich fühle mich schon mit dieser Welt hier ziemlich ausgelastet. Aber was ist Oben und was Unten? Darüber müsste ich mal mit ihm sprechen.

Heute scheint es mir mehr denn je angebracht, weniger das Gegensätzliche, als das Verbindende zu betonen. Von Zeit zu Zeit aber begegnet mir unüberbrückbar Geschiedenes.

Die Verteidigung der Freiheit ist die Verteidigung des Individuums (und umgekehrt).

Entgegen der Ansicht, dass man glücklich erst ist, wenn man wunschlos glücklich ist, habe ich immer noch Wünsche, deren Erfüllung mich durchaus glücklich macht. Die Erfüllung allerdings, das lässt sich nicht leugnen, lässt im Lauf der Zeit nach und damit verschwindet auch das Glück.

Wer Heimat außerhalb seiner selbst sucht, ist schlecht beraten, sagt Teiresias, und wer meint, er habe sie in sich selbst gefunden, sitzt einem Irrtum auf.

Gern würde ich mehr schriftlich festhalten von dem, was mir durch den Kopf geht, aber, was mir durch den Kopf geht, geht mir so schnell durch den Kopf, dass ich schreibend nicht mitkomme.

Nicht ein ”Mann ohne Eigenschaften” müsste es heißen, sondern ein Mann ohne Geschichte. Aus dem Nichts gekommen und spurlos verschwunden.

Ich bin immer in Begleitung. Selbst in den einsamen Stunden, die so selten nicht sind, gehe ich mir nicht verloren, bislang zumindest.

Von der Terrasse aus schaue ich mit Teiresias zusammen in den herbstlich sich verfärbenden Garten, wie ich es manchmal in einer Arbeitspause mache. Teiresias legt mir die Hand auf die Schulter und meint: Eine gewisse Ordnung im Leben ist tragend. Sie muss so ordentlich nicht sein, aber sie muss ordnen.

Seit er ahnt, dass Brot mehr ist als ein bloßes Nahrungsmittel, kann er kaum noch eine Bäckerei betreten, nicht zu reden von den Backabteilungen der Supermärkte.

Wenn ich male, achte ich auf das Nebenstehende, ohne ihm, dem Nebenstehenden, allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Rendezvous’ mit ihm, dem Nebenstehenden, sind heikel.

Teiresias ist ähnlicher Ansicht, wenn er sagt, dass sich der Kern einer Angelegenheit oftmals im Nebenstehenden verbirgt.

Jegliche Kunstäußerung drängt zur Selbstaussage, nebenstehend und selbstredend.

Mit zunehmender Lebenserfahrung entwickelt man eine gewisse Raffinesse, Unausweichlichem aus dem Weg zu gehen, bis man ihm dann doch einmal über den Weg läuft.

Man weiß ja nicht, wie man ans Ende kommt, man weiß nur, dass man ans Ende kommt. Eine beunruhigend beruhigende Tatsache.

Das sogenannte gute Leben kann durchaus von schlechter Qualität sein.

Die Straßen sind bedeckt mit zerfasernden Blättern. Ich eile über sie hinweg und fast entgeht es mir, was da für eine Pracht zu Grunde liegt und geht. Achte ich der partiellen Schönheit des Vergehens nicht, weil es an eigenes Vergehen mahnt, oder ist hier nichts anderes am Werk als natürliche, menschliche Unaufmerksamkeit?

Das Naheliegende liegt oftmals fern, höre ich Teiresias murmeln.

Augenblicklich ist mir Teiresias eine große Hilfe. Fachmännisch wie ein Gärtner schnappt er sich den Rechen, harkt geruhsam Blätter zusammen und verfrachtet sie auf den Komposthaufen, der stetig in die Höhe wächst.

Von entschiedener Qualität ist ein Leben nicht allein dadurch, dass man sich Ziele setzt und diese Ziele, die man sich gesetzt hat, erreicht. Entschieden ist ein Leben, weil man es entschieden lebt.

Der stille, kaum zu bemerkende Vorwurf im Auge des anderen: warum schaust du mich nicht an, warum reichst du mir nicht die Hand?

Einer hat in sein Leben eingewilligt. Fortan erwartet er nichts mehr und tut auch nichts mehr, was eine Erwartung rechtfertigen könnte. Scheiden wäre möglich, jetzt sofort. Die letzten Worte, sofern sie noch über seine Lippen kommen könnten: gut so.

Was benötigt Kreativität? - Im Grunde genommen nichts, außer vielleicht ein offenes Ohr, einen freien Blick.

Ich entscheide mich nicht gern. Man kann mich wirklich nicht zu den entscheidungsfreudigen Menschen zählen. Das liegt daran, dass ich mich fast grundsätzlich beim ersten Mal falsch entscheide. Verständlich, dass mir das erhebliche Probleme beschert. Andererseits kommt man im Leben um ein gewisses Maß an Entscheidungen nicht herum. Das muss auch ich einsehen. So habe ich mich damit abgefunden, dass sich die Fehlentscheidungen und die damit verbundenen, mehr oder weniger aufwendigen Folgen mehren.

Man liebt in der Jugend ohne Vorstellung vom Alter, während man im Alter darum bemüht ist, die Vorstellung jugendlicher Liebe nicht voll und ganz aus den Augen zu verlieren.

Die Worte ”ich liebe dich” kamen ihm nie über die Lippen. Zu gut wusste er Bescheid über sein Liebesdefizit, als dass er diese Worte ohne Scham hätte aussprechen können.

Dass man sich in ihn verlieben kann, was für ein Missverständnis.

Das Böse ist das Böse, das Gute das Gute, sagt Teiresias.

Man fängt immer wieder von vorn an, das ist Kontinuität.

Teiresias steht am Fenster und beobachtet gelangweilt, wie der Nachbar seine Mülltonne an den Straßenrand stellt. Wie zu sich selbst spricht er: Am Ende geht der Mensch immer zur Tagesordnung über, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als zur Tagesordnung überzugehen, es sei denn, er bringt sich um.

Wie oft ist das sich dem eigenen Begriffsempfinden Anbietende in Gefahr, auf Grund zu laufen und damit einem Lot Sinn zu verleihen? Oder kurz gesagt: wie oft lotet man aus?

Meist ähnelt das Leben dem unscheinbaren Gekräusel eines Gewässers unter indifferenten Brisen.

Wer strebt nicht über das hinaus, was er ist, obwohl es angebracht wäre, das zu sein, was man ist, weit über das hinaus oder entgegen dem, was man gern sein möchte.

Selbstachtung geht einher mit der Achtung der anderen, meint Teiresias.

Er erzählte mir von seiner Frau. So, wie er über sie sprach, eine bemerkenswerte Person. Sie hatte ihn kürzlich verlassen, wegen einer aus seiner Sicht unbedeutenden Affäre. Er liebe sie immer noch und eigentlich mehr, denn je. Aber, so fügte er bitter an, wer wirklich liebt, kann über ein Versagen des geliebten Menschen nur schwer hinwegsehen. Liebe verzeihe nicht, sie mache hart und bisweilen gnadenlos.

Nach Teiresias würde der Mensch seinen Mitmenschen zuweilen Dinge in den Mund legen, die diese gar nicht gesagt haben und vermutlich gar nicht sagen würden.

Wer hoch hinaus will, muss tief fallen können (ohne sich dabei das Genick zu brechen).

Nur ein einzelner Buchstabe trennt Aushalten von Raushalten.

Ist nicht der Mensch zu beglückwünschen, der zu sterben versteht?

Politische Erfolge ziehen nicht automatisch nach sich, dass es Menschen, die mit Politik nichts zu tun haben, besser geht. Im Gegenteil: oft kosten sie vor allem Geld.

Wohlgefallen an der Dunkelheit.

Es existieren fortschrittshemmender Weise nicht nur verquere Ansichten, sondern auch eine aussitzende Sitzposition, die einer ganz besonderen Hemmung Ausdruck verleiht.

Will man mehr sein als ein menschliches Tier, kommt man um Herz und Verstand nicht herum.

”Zum Beispiel könnte eine Broschüre der Gegenwart ”Vom eingeschränkten Gebrauch der Verstandeskraft” lauten”, schaut Teiresias hinter der Zeitung hervor und zwinkert mir zu, ”und Gegenwart war und ist immer und wird immer sein”.

Wenn es zu viele Menschen gibt, die nicht damit klar kommen, dass auch sie nur Menschen sind …

Ein Bild kann mich durchaus in Frage stellen.

Teiresias faltet die Zeitung sorgfältig zusammen und legt sie beiseite. ”Wer leben will, kommt um den Tod nicht herum. Eine Wahrheit, die - wie andere Wahrheiten auch - gerne mal in den Binsen verschwindet und dann zur Binsenwahrheit wird”.

Zwei Arten von Respekt, die du leicht verwechseln kannst, die gattungsspezifische und die handlungsspezifische. Ach, ich vergaß, es gibt ja noch den Respekt vor Amt und Würden.

Respekt ist angebracht, solange keine Respektlosigkeit vorliegt.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass Zeitungen und andere Veröffentlichungsmedien mehr für die schreibende Zunft da sind, als dass sie zur Information und Unterhaltung einer mehr oder weniger interessierten Leserschaft dienen.

Ja, das gleicht der Quadratur des Kreises, meint Teiresias dazu, Ausdrucksbedürfnis und Beeindruckungsdrang unter einen Hut zu bringen. Übrigens die künstlerische Herausforderung schlechthin: Expression und Impression überzeugend auszubalancieren.