Mar 2021

”Tja, Teiresias”, sage ich, ”Schwarz auf Weiß macht vielleicht den Kopf frei, aber viel bei Rumgekommen ist da nicht.” ”Nur die Ruhe”, antwortet er mir, ”wenn du deine Hand uneigennützig führst, stellen sich gute Ergebnisse fast wie von allein ein.”

Lese bei Henri Matisse (noch zu Lebzeiten ein anerkannter Maler), dass er sich in den ersten Jahren seiner Künstlerexistenz ab und zu von Zuhause - sein Vater war Getreidehändler - einen Sack Reis mitnahm, um am Monatsende, wenn die Haushaltskasse leer war, etwas zum Beißen zu haben. Dieser mit Salz gekochte Reis wäre eine Delikatesse gewesen, an der manch Künstlerfreunde hätten teilhaben dürfen.

Vieles ist vollkommen selbstverständlich, zumindest in unseren Breiten, obwohl es so selbstverständlich gar nicht ist, z.B. die gefüllte Kühltruhe im Keller, das Trinkwasser aus der Leitung, Brennholz vor der Tür, Strom ganztägig. Wir haben unser Leben so selbstverständlich eingerichtet, dass uns die hundertprozentige Aussicht auf sein Ende alles andere als selbstverständlich ist.

Das prekäre Leben Kunstschaffender als Klischee, das, wie jedes Gerücht, ein Körnchen Wahrheit enthält.

Auch heute komme ich ungern meiner Begabung nach, wenn es denn eine gibt. Aber wie ich mich kenne, werde ich mich überwinden und fleißig die Zeichenkohle übers Papier ziehen.

Der andere in mir gibt mir unmissverständlich zu verstehen (das scheint ihm regelrecht Spaß zu bereiten), dass ich allzu gern nach Dingen strebe, die mir nicht zukommen. Woher er das weiß, verrät er mir nicht. Immer wieder legt er es darauf an, mich mit seinen zwiespältigen Einwürfen zu verunsichern, statt mir gut zuzureden und Mut zu machen.

So ein Blödsinn, sagt Teiresias,
der will dich überhaupt nicht verunsichern, der ist notwendiges Korrektiv zu deiner Hybris. Außerdem, vergiss’ das nicht, der andere, das bist du.

Ein Beispiel. Sage ich, das kann ich gut, sagt der andere, aber nichts richtig. Auch ist er der Meinung, dass es reine Verschwendung sei, was ich da mit meiner Zeichenkohle dem Papier zumuten würde. Aber dann: eine einzige gelungene Zeichnung und er zieht sich kleinlaut zurück, und noch eine gelungene Zeichnung lässt ihn vollends verstummen (bis zum nächsten Mal).

Man wird mit dem anderen geboren, meint Teiresias, aber man merkt davon zunächst nichts. Falsch verstandene Erziehung verdirbt ihn meist ins Gegenteil. Aus einem Förderer wird ein Destrukteur. Dein anderer ist eigentlich ein Genius (dein Genius), den die Erwachsenen deiner Kindheit haben verkommen lassen. Aber du hast ihn ja aus der Gosse geholt. Das rechnet er dir hoch an, trotz seiner zeitweiligen Entgleisungen. Du kannst ihm grundsätzlich vertrauen, wenn auch nicht blind.

”Na, lässt du dich auch mal wieder blicken”, schaut mich Teiresias vorwurfsvoll an, als ich das Atelier betrete. ”Sorry”, antworte ich beschwichtigend, ”aber meine Frau hatte Urlaub”.

Freiheitlich demokratische Grundordnung!

Der Blick in die Auslage der Buchhandlungen verrät: etliche Neuerscheinungen zum Thema Corona-Pandemie, nicht ganz so schnell auf den Markt gekommen, wie im vergangenen Jahr ”Die Pest” von A. Camus, aber die war ja auch längst geschrieben, zu anderer Zeit und aus anderem Anlass.

Manch begabter Künstler - man könnte fast sagen, je größer die Begabung, desto mehr - hat überhaupt keine Lust auf seine Begabung. Aber meist, wenn er sich denn dazu durchringt, seiner Begabung Rechnung zu tragen, bringt er etwas künstlerisch Wertvolles zu Weg.

Teiresias meint, ich solle jetzt, nach einer Woche Atelierpause, nicht sofort mit Farbe beginnen, sondern zeichnen. Schwarz auf Weiß kläre den Kopf und ordne die Gedanken.

Augenblicklich jede Menge Termingeschäfte und Geschäftstermine in der Stadt.

Wir bauen unter großem Aufwand Schnellbahntrassen für Hochgeschwindigkeitszüge, die unsere Metropolen schnellstmöglich verbinden sollen, und bleiben dann verkehrsbedingt auf der Strecke.

Zum Vater hat’s gereicht, auch zum Großvater noch, zu mehr aber nicht. Dabei wäre gesellschaftspolitisch Mehr entscheidend gewesen.

Er steht wie neben sich und der, der da neben ihm steht, wenn er wie neben sich steht, der andere, ist einer, dessen Leben er lieber nicht leben möchte, obwohl er ihn auch ein wenig beneidet, weil der so gar nichts erreichen muss und trotzdem alles zu haben scheint. Das ist schon was. Aber was?

Wir haben nur Fakten geliefert, wird man sich seitens der Wissenschaft verteidigen. Die richtigen Entscheidungen zu treffen auf Grund der Datenlage, haben wir der Politik überlassen (müssen). Als beratende Instanz war das nicht unser Auftrag.

Fußballer tun auch nicht mehr als nötig. Nur solange sie sehr jung sind, hängen sie sich rein, reißen sich um der Ehre willen mindestens ein Bein raus. Später dann fangen sie an verständlicher wie zeitgemäßer Weise Energie zu sparen.

Teiresias ist ja der Meinung, der Mensch habe durchaus die Aufgabe, die Schöpfungsgeschichte fortzuschreiben, allerdings auf zarte Art und Weise, zurückhaltend und maßvoll.

”Bella Figura” beeindruckt vor allem dann, wenn man keine (mehr) hat.

Lass’ dich nicht durch den Tod vom Leben abhalten, rät mir Teiresias, statt dessen lade ihn ein, mit dir zu leben. Wie soll man denn - bitte schön - mit dem Tod zusammen leben, sage ich, wo er doch einzig und allein dazu da ist, das Lebensende zu markieren? Indem du ihm zum Beispiel dankbar bist, antwortet mir Teiresias, denn, wo ein Anfang, da ein Ende, wo ein Ende, da ein Beginn.

Der Tod ist kein ”Verhängnis”, der Tod ist eine Gegebenheit. Ein Verhängnis ist ein Leben, das dem nicht Rechnung trägt.

Du bist schon immer ein Hitzkopf gewesen, ein idealistischer dazu, meint Teiresias und tippt mir mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand an die Brust. Wie wär’s mit etwas mehr Duldsamkeit? Da hast du gewiss Recht, antworte ich ihm, aber Duldsamkeit hat etwas mit Warten zu tun und Warten war noch nie meine Stärke.

Jeder Dialog lebt von der Ehrlichkeit des Augenblicks.

Das Leben mehr vom Ende her denken, viel, viel mehr vom Ende her, brummt Teiresias hinter der Zeitung.

Nach Teiresias neigt der Mensch leider allzu gern dazu, einer vermeintlich höher stehenden Person, einer Person in Amt und Würden sozusagen, mehr Glauben zu schenken als nötig und vernünftig ist.

”Seit Jahren mache ich das, was ich schon als Kind gern getan habe, heimlich, still und leise, meist unbemerkt von den Erwachsenen und darum angenehm unkommentiert”, sagt er sich und spielt mit Hingabe weiter.

Das Leben ist begrenzt. Also richtet es sich innerhalb seiner Grenzen so gut als möglich ein und schaut ab und zu, je nach Laune, neugierig über sie hinweg. Bei Bedarf vollzieht es eine Grenzüberschreitung und richtet sich hinter neuen Grenzen ein, über die es vielleicht irgendwann einmal auch einwegschauen wird.

Der tagelange Sturm hatte alle Bäume auf dem Grundstück ausgekämmt. Das Resultat dieser Reinigung lag im Garten verstreut. Tannenzapfen, allerlei Gezweig und zu Haufen zusammengetragene Kiefernadeln, fast wie Präriegras in einer verlassenen Wildwestcity.

Im Grunde genommen ist das ganz einfach, klopft mir Teiresias motivierend auf die Schulter. In Kunstdingen, damit etwas Kunst wird, musst du dran bleiben, bis das Werk anfängt von Innen heraus Energie auszustrahlen. Da kommst du nicht drum rum. Von nichts kommt nichts, wie meine Großmutter zu sagen beliebte. Übrigens ist es unter diesem Blickwinkel völlig unerheblich, ob du gegenständlich oder abstrakt orientiert bist, will man diesen leidigen Gegensatz überhaupt bemühen.

Ohne Freunde sein gleich ohne Freude sein.

Die lebenslange Aufgabe: Freiheitsdrang und Bindungsverlangen in lebensvolle Übereinstimmung zu bringen.

Die Illusion frei sein zu können, der der Mensch lebenslang nachlebt, verliert sich endgültig im Moment des Todes. So gesehen stellt der Tod das einzige Freiheitsmoment im Leben des Menschen dar. (siehe auch A. Camus, Tagebücher 1932-1942, Rowohlt 1963, S. 112)

In Wahrheit gibt es für den Mensch natürlich diese Freiheit nicht, jedenfalls nicht als absolute, spricht Teiresias, der mir über die Schulter geguckt hat. Der Mensch kann nur frei sein von, nicht frei sein an sich. Das steht nur den Göttern zu. So bleibt auch der Tod, ob selbstgewählt oder nicht, für den Mensch ein relatives Ereignis, dem er keinen absoluten Freiheitswert abgewinnen kann. Er wechselt bestenfalls die Existenzform, mit dem immer gleichen relativen Resultat: Frei sein von (der alten Existenz) wechselt ab mit frei sein zu (einer neuen Existenz).

Bevor einen der Tod ereilt, kann man sinnvollerweise noch eine Menge tun, rät mir Teiresias. Man verwirkliche ein Altersprojekt, fern von Speis und Trank oder anderen Leibesübungen, die altersbedingt ja sowieso einer gewissen Einschränkung unterliegen, hier aber nicht verunglimpft werden sollen. Man suche sich etwas, fährt er fort, dem man sich für den Rest der Tage intensiv widmen will. Das Spektrum reicht von Enkelkindern, sofern vorhanden, über Naturpflege, bis hin zum Erlernen einer weiteren, eventuell neuen Fähigkeit, wie das Sprechen einer fremden Sprache oder das Spiel eines Musikinstruments. Insgesamt ungemein belebend.

Sich ab und an folgende Frage stellen: was gibst du anderen im Verhältnis zu dem, was andere dir geben?

Ich will dem Tod nicht ins Handwerk pfuschen. Also lasse ich mich von ihm überraschen. Dazu darf ich nicht ständig an ihn denken. Das gelingt mir am besten, wenn ich mit ihm (zusammen) lebe.

Teiresias meint, posthum sei man immer besser als zu Lebzeiten.

Malerische Arbeitshaltung: nicht aufhören können, Farbspur an Farbspur zu setzen, die weiche Farbsubstanz, dünner oder dicker, dahin und dorthin zu verteilen, und dabei immer menschliches Maß im Auge zu behalten.

Am Ende hängt da ein Bild und ich weiß mal wieder nicht, wie genau ich das angestellt habe. Vorher und nachher komme ich mir immer etwas unbeholfen vor. Im Prozess aber, wenn Prozess, geht mir das Malspiel von der Hand, beglückend leicht und locker.

Das ist der Flow, wie man heute sagt, flüstert mir der lauschende Teiresias ins Ohr, früher sprach man vom Musenkuss, was heute etwas antiquiert klingt, den Nagel aber auf den Kopf trifft.

Nichtigkeitsempfindungen als Begleiterscheinung künstlerischer Erfüllung, konstatiere ich. Wohl wahr, antwortet Teiresias.

Der Mann, liebt er seine Frau, sorgt sich darum, dass das Lächeln auf ihren Lippen nicht erlischt.

Pathos als reine Überwältigung. Man verliert den Boden unter den Füßen. Die Gedankenmaschinerie läuft unfassbar leer. Man ist mal wieder frei zu nichts und allem.

Wenn ein Film realer sein will als die Realität. Er kann es nicht, aber er kann so tun als ob, und dieses ”als ob” bekommt unweigerlich etwas Beklemmendes.

Keine Frau kann dir dabei helfen, ein Mann zu sein, sagt Teiresias, aber möglicherweise liebt sie dich, wenn du einer bist. Übrigens: Männer sind nicht nur das schwache, sie sind auch das gefährdete Geschlecht, nur scheint sie das kaum zu interessieren.

Gerade wollte er sich eine Zigarette anzünden. ”Aber nein doch, hier dürfen sie nicht rauchen. Denken sie doch an die Umwelt. Außerdem ist Rauchen ungesund.”

Ich halte einer Frau gern die Tür auf. Ich lasse ihr, wo immer es geht, den Vortritt (egal, ob sie alt ist oder jung). Wohl ein Relikt aus alten Zeiten und früheren Tagen, als ich bei König Artus im Kreis der Tafelrunde saß.

Vor Jahren hätte er es nicht für möglich gehalten, dass er einmal in einem etwas verschlissenen Sessel sitzen und - an alles und nichts denkend - stundenlang unbeweglich zum Fenster hinaus starren würde mit dem paradoxen Gefühl, dafür überhaupt keine Zeit zu haben.

Einer glaubt, er hätte für nichts und niemand mehr Zeit. Was er sich vornimmt, sofort stellt sich der Gedanke ein: dafür hab’ ich keine Zeit. Wofür er aber Zeit bräuchte, vermag er nicht zu sagen.

Fundamentale Erkenntnis: es muss einem im Leben nicht gut gehen, auch wenn man alles dran setzt, dass es einem gut geht. Wie man es dreht und wendet. Es bleibt die Unschärfe des Zufalls.

Der Tod findet einen immer, bei aller Raffinesse der Todesvermeidung. Es handelt sich nur um eine Frage der Zeit.

Zyniker registrieren, dass sich etwas ändern müsste, und erkennen zugleich, dass sie nicht wirklich etwas ändern können. Ihre verbalen Ausfälle sind selbstzerstörerisch, auch wenn das auf den ersten Blick anders erscheinen mag. Im Grunde genommen verachten sich Zyniker für ihre Handlungsohnmacht. Ihr vermeintliches Gegenmittel: Zynismus (der mitunter schwer erträglich ist für die Mitmenschen).

Realität und Übertragungsmedien. Man liest, man hört, man sieht vor allem. Heute wünscht man sie sich zurück, die Realität, angesichts der allgegenwärtigen Dominanz der Kolportage.

Das Leben in der Unterwelt muss man sich wie eine große Schule vorstellen, verrät mir Teiresias beim Absacker. Da gibt es vorgeschriebene Unterrichtszeiten (mit Anwesenheitspflicht), während derer man sich exkursiv unter die Lebenden mischen muss. Das hat natürlich rein pädagogische Gründe. Die immer gleiche Aufgabenstellung besteht aus stundenlanger Verhaltensbeobachtung und dem anschließenden Abfassen eines (Erlebnis)Protokolls unter besonderer Betonung die eigene Biografie betreffender Schlussfolgerungen.

Älter kann ich wirklich nicht mehr werden, sagt Teiresias.

Das Verborgene in einem Kunstwerk ist bedeutsamer als das Sichtbare, aber ohne letzteres nicht von Bedeutung.

Liebe als Frucht des Austauschs, der sich einer (vielleicht nicht ganz so) zufälligen Begegnung verdankt.

Die Liebe einer Frau kann einem Mann das Fürchten lehren, sagt Teiresias.

Seine Mutter muss sich manchmal einsam gefühlt haben. Kaum ernst zu nehmende Freunde, kein Lebenspartner. Ihr Geburtstag, zum Beispiel, fiel in die Schulferien. Da war er selbst meist auf Reisen, mit dem Geld, das ihm seine Ferienjobs eingebracht hatten. Eine Ansichtskarte schrieb er ihr immer. Die kam aber meist erst nach seiner Rückkehr an. Der Mutter zu Liebe hätte er nicht auf seine Ferientour verzichtet. Kurz vor seinem Tod bereute er dies.

Beiläufig teilt mir Teiresias mit, er wisse durchaus, dass alle Weisen der Meinung seien, man solle an nichts festhalten im Leben. Aber wer schaffe das schon? An irgendetwas hänge doch jeder. So ganz käme man ums Hängen nicht herum. Zumindest weniger umtriebig könne man sein. Die Gefahr hängenzubleiben, würde sich reduzieren.

Hat man einen Hänger, ist es schon passiert. Man kommt nicht mehr weiter.

Leider war Vernunft noch zu keiner Zeit ansteckend, brummt Teiresias.

Seit ihm auffällt, dass er sich in unmittelbarer Nähe zu Menschen einsam fühlt, sucht er das Weite.

Wenn der Papst verkünden würde, jegliche Form der Liebe, solange sie keine Gewalt antut, sei gottgewollt, also rechtens und von der katholischen Kirche befürwortet, und das Zölibat sei keine Verpflichtung, sondern eine freie Entscheidung jedes und jeder Einzelnen. Aber er spricht es nicht aus.

Wenn man von anderen mehr fordert, als man von sich selbst zu fordern wagt.

Teiresias jubelt. Baumärkte und Gartencenter haben wieder geöffnet. Jetzt kann er endlich die Blumenmischung seines Herzens besorgen. Wie er das anstellt, will ich lieber nicht wissen. Geld hat er ja keins.

Auch das kann Ausdruck von Freiheit sein, dass man abends in irgendeinem Hotel des Landes an der Bar sitzt und einen Drink zu sich nimmt. Und dies Freiheitsgefühl ist noch steigerungsfähig, wenn man bedenkt, dass man ausschließlich zu diesem Zweck in den Zug gestiegen ist, um in diese Stadt, in dieses Hotel zu fahren. Man kann sich das leisten. Man ist niemand Rechenschaft schuldig.

Entgegen der Einschränkung, dass man sich für kurz oder lang in einem geschlossenen, über Gleise gezogenen Behältnis, vorwiegend sitzend und zum Fenster hinausschauend, aufhält, kann auch Zugfahren ein Freiheitserlebnis sein.

Ich bin ja noch nie Zug gefahren, sagt Teiresias, vielleicht nimmst du mich mal mit. Und ich überlege etwas skeptisch, wie das wohl sein würde mit einem blinden Seher im Schlepptau.

Ich sage ja zu mir selbst und öffne dem Chaos Tür und Tor.

Ein einfacher Mensch zu sein, das wäre doch was. Aber begegne ich einem, ist es mit meiner Sehnsucht vorbei.

Der subversive Versuch eines Künstlers, der eines Tages beschließt, nur noch Kitsch zu malen, um dem Kunstmarkt ein Schnippchen zu schlagen. Aber die Kritik reagiert wohlwollend, lobt ihn in den Himmel. Bahnbrechend sei, was er da mache, geradezu subversiv. Und der Kitsch verkauft sich blendend.

Das zarte Geschlecht. Handarbeit, Musik und gute Lektüre. Nicht zu vergessen die Briefe.

Dass ich diesen Tag erleben darf (wie viele andere vor ihm auch), der mir nichts anderes abverlangt, als das, was ich ihm zuraune!

Auch eine Aufgabe der Malerei: Verdichten und Auflösen in ein stimmiges Verhältnis zu bringen (je nach Persönlichkeit, Inhalt, Material und Technik).

Das Eichhörnchen hat Nachtdienst gehabt. Nun eilt es in seinen Kobel und verschläft den Tag.

Der Quintenzirkel als Resultat von Teilung und Nachfolge. Und immer muss erhöht oder erniedrigt werden, bis man am Ende wieder an den bloßen Anfang zurückfindet, dorthin, wo man begonnen hat (fast wie im realen Leben).

Wer den Untergang vorbereitet, arbeitet unwillkürlich am Aufgang, meint Teiresias. Allerdings wäre beides anstrengend. Deshalb bevorzuge er Zwischenzeiten des Nichtsmehr, bzw. Nochnichts. Da ginge es immer sehr entspannt zu.

Einem wird die Frau verrückt und die geliebte Tochter stirbt bei der Geburt ihres Kindes. Er komponiert noch eine Sinfonie. Dann stirbt auch er.

Jetzt hat er die Nase voll. Das lässt er nicht länger mit sich machen und den anderen nicht mehr durchgehen, dass sie nicht über ihn und was er so macht sprechen, dass sie so tun, als wäre er Luft. Er nimmt das ab jetzt als persönlichen Affront. Er sagt sich, die wollen das so. Es handelt sich dabei nicht um Unaufmerksamkeit, sondern um gezielte Erniedrigung. Nun ist Schluss damit. Verschweigen lässt er sich nicht mehr.

Übrigens, blinzelt mir Teiresias zu, Freunde mischen sich ein. Die Mischung kann unterschiedlich sein. Manches Gemisch ist bitter, anderes schmackhaft, leicht und locker. Unter Freunden sollte beides willkommen sein, Genießbarkeit hin oder her.

Jeder hat etwas zu sagen, berechtigterweise. Aber man möchte nicht alles hören müssen.

Reiner Tisch. Man kann den Tisch auch kippen, vorzugsweise von sich weg. Dann rutscht alles runter, nach vorn, wie von allein. Reinigung und Politur der Tischplatte wie andernorts beschrieben.

Tabula rasa als Aufgabe, lebenslang.

Man stelle sich vor, es ist tiefer Winter, saukalt und kein Brennmaterial vorhanden. Alles Brennbare im Haus wandert nach und nach in den Ofen, Tisch- und Stuhlbeine, nebst zerhauener Tischplatte (was gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist). Kleinmöbel, auch zerhauen. Auch Bücher kommen an die Reihe. Man verheizt die eigene, mühsam und unter hohem Aufwand erstellte Bibliothek. Dabei wird selektiert. Die wertvollsten Bände spart man sich auf. Vielleicht sind sie noch zu retten, zum Beispiel, weil der Frühling vorzeitig einsetzt.

Die Notwendigkeit ästhetischen Ausdrucks ist der Notwendigkeit ihn konstituierender Handlungen verpflichtet. Kurz gesagt: Alles erscheint, als müsste es so sein und nicht anders.

Die anderen waren zeitlebens der Meinung, er hätte seine Frau ausgenutzt. Auf die Idee, dass seine Frau, entgegen aller Annahmen, auch ihn hätte ausgenutzt haben können, wenn auch auf andere Art und Weise, kamen sie nicht.

Die Versteherrolle. Altruismus als Gebot der Stunde.

Einer stellt keine Fragen mehr und erwartet weder Antworten, noch gibt er welche. Er verschwindet im Wald, baut sich auf einer Lichtung eine Hütte und redet fortan nur noch mit sich selbst und den Bäumen.

Der Wert des Alltäglichen bemisst sich daran, meint Teiresias, ob es einem gelingt, seinem Geheimnis nahe zu sein. Zum Beispiel ein Staubkorn, das im hereinfallenden Sonnenlicht kurz aufglitzert wie ein seltener Edelstein. Entscheidend ist, höre ich ihn noch sagen, was man selbst aus etwas macht, das etwas mit einem macht, wenn es etwas mit einem macht.

Wenn keiner meiner Tage der Zeit voraus wäre und keiner ihr hinterher hinkte. Ohne Geschichte lebte ich. Wenn der Tod mich träfe, ich würde überrascht sein.

Obwohl er sich häusliche Qualitäten angeeignet hat (wie man sich eine Fremdsprache aus Verständigungsnotwendigkeit heraus aneignet), hegt er eine tiefe Abneigung gegen Hausarbeit. Von außen betrachtet könnte man meinen, er sei der perfekte Hausmann, ohne Fehl und Tadel. Aber im tiefsten Innern verabscheut er diese Rolle, die er gleichwohl fast perfekt verkörpert. Nur manchmal, wenn der Widerwille zu groß wird, dann verliert er die Beherrschung, dann fällt er aus der Rolle, dann geht etwas zu Bruch, unversehens.

Ach, lass’ es gut sein, sagt er zu seinem Schicksal. Ich werde dich nicht weiter behelligen.

Rettung gibt es nicht, lallt der etwas zerknitterte Mann an der Bar, der schon einige Drinks intus hat, aber man kann sich die Zeit bis zum Finale so angenehm wie möglich machen, leert sein Glas und setzt sich ans Klavier.

Ein reiner Tisch. Man schiebt alles nach links, bis es vom Tisch fällt. Dann reinigt man die Tischplatte, nimmt ein weiches Tuch zur Hand, etwas Möbelwachs und poliert die Oberfläche bis sie glänzt. Nun setzt man sich an den reinen Tisch und bestaunt die glanzvolle Leere.

Eine fatale Eigenschaft des Menschen besteht in seiner existenzbedingten Neigung, sich bis zur Selbstverneinung bestehenden Verhältnissen anzupassen. Wie er es auch dreht und wendet, er findet immer Situationen vor (und ist zugleich ihr Verursacher), in die er sich fügen muss, fügen will. Insofern sind die vergangenen zwölf Monate einer epidemischen Lage besonderer Schwere ein beredtes Indiz für die zwiespältige Anpassungsfähigkeit des Menschen.

Bürger zu sein, ist etwas anderes, wie Staatsbürger zu sein. Letzteres ist man von Amts wegen, ersteres aus Leidenschaft.

Teiresias: Manch’ einer will mehr als er vermag, andere vermögen mehr als sie wollen. Vorsicht aber, wenn es ums große Ganze geht.

Einem Konsumenten kann man alles verkaufen, solange man ihn Glauben macht, dass alles, was man ihm zum Kauf anbietet, unverzichtbarer wie selbstverständlicher Bestandteil seines Lebens sein muss.

Teiresias: Kann man die Schöpfung nicht zweifelsfrei erklären, gebiert erkenntnismäßige Redlichkeit, dass man Gott oder Götter oder ein göttliches Prinzip nicht vollkommen als verursachende Qualität ausschließt. Urknall, schön und gut. Aber wer hat da geballert und warum?

Seit etwa zehn Minuten zeigt sich das Licht des beginnenden Tages bereit, meine Gedanken zu erhellen. Ich gebe ihm Recht und schalte die Lampe aus.

Teiresias: Die große Liebe findet man nicht vor, die große Liebe macht man groß. Liebe ist eine Verheißung, die man zur Erfüllung bringt.

Wenn man über die negativen Folgen einer von Menschen inszenierten, technischen Entwicklung spricht, derer sich fast alle bedienen, und dabei so tut, als wäre sie vom Himmel gefallen: wenn sie nun mal in der Welt ist - sie hat ja auch gute Seiten -, müssen wir das Beste daraus machen. Aber frei nach Theodor W. Adorno kann es im Falschen das Beste nicht geben. Wäre es nicht das Falscheste?

Ich vertraue Teiresias blind (er mag mir, ob seiner Blindheit, diese wenig feinfühlige Äußerung verzeihen), auch wenn er mir unter die Nase reibt, dass gesundes Vertrauen deshalb gesund ist, weil es sich den Vorbehalt gesunden Misstrauens nicht nehmen lässt.

Teiresias: Es gibt nichts, das man nur theoretisch meinen könnte, mit anderen Worten: alles ist von praktischem Belang.

”Es gibt keinen größeren Ruhm, als allein und unbeachtet zu leben”, zitiert Teiresias. Ist von Camus, erklärt er mir, aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, genauer gesagt, aus Bd.1, 1935 - 1942, Rowohlt, S. 61. Habe ich oben in deinem Bücherregal gefunden. Sehr interessant. Muss ein ziemlich religiöser Mensch gewesen sein, dieser Herr Camus, obwohl Atheist, vermutlich. Ich würde allerdings nicht von Ruhm sprechen wollen, sondern von Glück.

Für die Spielfigur in einem Spiel ist das Spiel immer Ernstfall. Nur der Spieler, der die Spielfigur bewegen kann, wie er will, wenn auch nach den meist dem Zufall verpflichteten Regeln des Spiels, kann entspannt behaupten: das ist doch nur ein Spiel. Für eine Spielfigur ist ihr Dasein eine existentielle Angelegenheit, für einen Spieler nicht.

Wer das Leben als Spiel auffassen will, wofür einiges spricht, sollte Kenntnis darüber haben, welche Rolle er darin spielt.

Was man veröffentlichen will, sollte man zigmal verschwiegen haben.

Man bringe es im Leben immer zu etwas, meint Teiresias. Was, sei dabei Neben-, Bringen die Hauptsache.

Meist hat man mehr Glück als Verstand. Aber im allgemeinen Lebensgetümmel achtet man nicht darauf.

Müßiggang ist nur etwas für starke Naturen, Schwache fallen ihm zum Opfer.

Wofür sollte ich dereinst gelebt haben, als für das Leben selbst, auf es hingelebt - unwissentlich erst, dann erkennend - und darum gut gelebt.

Seit er nicht mehr unterscheiden kann zwischen Künstlichkeit und Originalität, sind ihm Einbildungskraft und Bildfähigkeit erloschen. Nun ist er krampfhaft dabei sich auszumalen, was es bedeuten könnte, nur noch auszumalen. Selbst das fällt ihm schwer.

Nichts zu sagen zu haben über sich, ist etwas anderes, als wenig bis gar nicht über sich und die eigenen Belange sprechen zu müssen. Wo das eine bedauerlich ist, erscheint mir das andere lebensklug und zugleich vom Leben diktiert.

Teiresias meint ja, dass allgemein viel zu viel geredet würde über Gott und die Welt und leider viel zu wenig über Essentielles. Aber, was sei schon essentiell?, fügt er mit einem Schmunzeln hinzu.

Wann ein (Bild)Werk zu leben anfängt, ist schwer zu bestimmen, und, was man als Urheber dafür tun muss, vielschichtig. Sicher aber ist, dass dieses Leben sich ab einem bestimmten Grad der Werkbearbeitung einstellt. War man zuerst Gebender, wird man nun beschenkt.

Abfindung. Man bekommt etwas, wenn man geht.

Eine Pflicht zu lieben kann es nicht geben, sagt Teiresias ziemlich unvermittelt. Liebe ist ein Geschenk des Daseins, das sich mit Verpflichtung überhaupt nicht verträgt. Aufgerufen kann man sich fühlen zur Liebe, aber das ist schwierig genug. Wie oft überhört man den Ruf oder erliegt ihm bis zur Besinnungslosigkeit. Denn Liebe kann gewaltig sein wie zart und manchmal verstörend.

Wenn das Rettende gleichermaßen rettet, wie zum Tode wirkt.

Das Leben ist Sache des Todes, wie der Tod eine Angelegenheit des Lebens, meint Teiresias. Man trachte nach dem rechten Leben, wie nach dem rechten Tod (sofern der Mensch überhaupt danach trachten kann).

Wenn die Sonne des Morgens für eine kurze Zeit einen zarten, rötlichen Schimmer über alles legt.

Liebe ist kein räumliches Phänomen (von da nach da, von Person zu Person), sondern ein zeitloses Überkommnis.

Du kannst nicht 24 Stunden am Tag kreativ sein, tippt mir Teiresias auf die Schulter, als mir mal wieder die Zeit fortzulaufen scheint, das macht Kreativität nicht mit. Außerdem müsstest du doch längst wissen, dass sie sich gerne rar macht und dem Müßiggang frönt. Also mach’ mit!

Ich bin alles andere als kreativ. Kreatürlich schon. Aber nicht kreativ. Kreativität ist für mich ein Fremdwort. „Das glaubst du doch selbst nicht“, lacht mich Teiresias aus, dieser Gedankenspion, vor dem sich auch so gar nichts verheimlichen lässt.

Stadt und Land als untrennbar aufeinander bezogene Entgegensetzung.

Man nimmt an, man wüsste, wer man sei. Aber was, wenn dieser Wer überraschend anders ist als angenommen? Wer müsste man sein im Kontakt mit dem, den man bislang nicht kannte? Ein anderer oder der nicht ganz ähnliche Gleiche? Teiresias meint, solange man diese Frage nicht zweifelsfrei klären könne (was wahrscheinlich sei, dass man das nicht kann), bleibe man lieber beim Bisherigen (und lasse den anderen irgendwo anders anders sein), da könne man nichts falsch machen und die anderen würden einem schon zeigen, ob’s stimme.

Das Leben setze sich aus einer unüberschaubaren Detailmenge zusammen, übergeordnete Gesichtspunkte gingen darin fast unter, meint Teiresias, aber man gibt nicht auf, immer wieder neue zu suchen und vermeintlich findet man sie auch, vorübergehend.

Keine Gesellschaftsform trägt eine Verpflichtung in sich, sie in politischer Hinsicht für bedeutsam zu halten. So kann man durchaus in einer x-beliebigen Staatsform untergebracht sein, ohne sie und die in ihr agierenden politischen Kräfte für bedeutsam zu halten. Man kann sie ignorieren, wie man anderes im Leben auch ignoriert, aus dem einfachen Grund, weil es für einen selbst ohne Belang ist.

Klar, er ist ein ganz und gar unpolitischer Mensch. Das hat damit zu tun, dass Politik immer von Politikern gemacht wird.

Sind Politiker hauptsächlich damit beschäftigt, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, sich ins Gespräch zu bringen, sägen sie am Ast (der Politik), auf dem sie selbst sitzen. Für Presseleute gilt das nicht ganz Gleiche (denn sie sägen dann am Ast der Presse).

Das Geheimnis ist, murmelt Teiresias (in den Wirtschaftsteil der Zeitung vertieft), seine Bedürfnisse zu reduzieren und gleichzeitig zu leben wie ein König. Einen besseren Umweltschutz gibt es nicht.

Hinab sah er von der Brücke, die sich, so schmal sie auch war, Menschen verbindend über den Fluß schob, und kämpfte für einen Moment mit der Versuchung sich hinabzustürzen, bevor sein Blick sich in den Wasserspiegelungen der imposanten Barockarchitektur verfing und ihnen folgend mit mildem Lächeln am jugendlichen Treiben auf den Uferwiesen hängen blieb, das unbekümmert rastend sich der lieblichen Atmosphäre des sonnigen Nachmittags hingab. Ohne Zweifel, er war jung geblieben, aber seine Jugend steckte in einem alternden Körper, der nicht mehr in der Lage war, ihr Sichtbarkeit zu verleihen. Einmal mehr nahm er Abschied von ihr, die nie ganz und gar die seine war und die er doch niemals zur Gänze verlieren würde.

Wieviel Ecken hat ein Kreis, fragt mich Teiresias, und auf meinen etwas ratlosen Blick hin, fährt er fort: unendlich viele. So ungefähr hat man sich die Quadratur des Kreises vorzustellen.