Das eigene Gesicht ist das gesehene Gesicht, das von anderen gesehene. Ich selbst kann es nicht sehen, außer ich schaue in einen Spiegel oder in eine spiegelnde Oberfläche. Was mich zweifelsfrei identifiziert und darum von anderen unterscheidet, mein Gesicht, ist für mich selbst ohne äußeres Hilfsmittel unsichtbar. Ohne zu wissen, was genau eigentlich gemeint ist, spreche ich von meinem Gesicht, als ob es sich um das Selbstverständlichste der Welt handeln würde. Ich und mein Gesicht sind eins, ohne dass sie sich von Angesicht zu Angesicht kennen.

Mein Gott, was mach’ ich heute wieder für einen Eindruck, einen guten ganz bestimmt nicht. Was hat mich so runtergezogen? Dabei hat der Tag gut angefangen. Beim Aufstehen war noch Alles in Ordnung. Erst als ich im Bad vor dem Spiegel stand, kam die Ernüchterung. Wer ist auf die idiotische Idee gekommen, über Waschbecken Spiegel anzubringen?

Ich stelle mir lieber nicht vor, was Hände im Lauf eines Tages so alles tun (was meine eigenen anbetrifft, bin ich bestens informiert), ohne gewaschen zu werden. Ein unvoreingenommenes Händeschütteln ist da eigentlich nicht drin. Auch vom französischen Brauch, Küsschen auf Wangen zu platzieren, wenn auch noch so flüchtige, ist abzuraten. Man bevorzuge andere, weniger körperbetonte Gesten, um Verbindlichkeit und anderes zu signalisieren. Aber welche könnten das sein?

Seit du existierst, dringst du ein. Welt und Mensch sind Leidtragende deiner Eindringlichkeit. Du bist der Eindringling par Exzellenz. Die Spuren, die du dabei hinterlässt, interessieren dich einen Dreck.

Wessen wir (vermutlich) am meisten bedürfen, ohne dass wir uns dessen ganz bewusst sind, ist liebevolle und durchaus lustvolle Berührung. Wir sind auf (Körper)Kontakt getrimmt.

Natürlich muss ich damit rechnen, unterwegs Menschen zu begegnen. Soweit möglich, vermeide ich dies. Es geht dabei immer um die Augen, um Blicke. Menschen, die sich einmal in die Augen gesehen haben, erkennen sich unter normalen Umständen relativ leicht wieder. Darum ist für mich das oberste Gebot: Blickkontakt vermeiden! Blicke dürfen sich nicht kreuzen. Wenn zum Beispiel die Zugbegleiterin meine Fahrkarte kontrolliert (was ich ihr ja nicht verwehren kann), schaue ich sie auf keinen Fall an. Auch kommen gegenüberliegende Sitzplätze nicht in Frage, da kann der Zug noch so voll sein.
Kopfbedeckungen sind in dieser Hinsicht sehr hilfreich. Sie beschatten den oberen Teil des Gesichts, den erkennungsspezifisch wesentlichen. Ich nenne ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Hüte und Kappen mein eigen. Je nach Auftrag habe ich immer einige im Gepäck, die ich wechselweise zum Einsatz bringen kann, je nach Situation. Ich trage grundsätzlich - und das leuchtet ein - unauffällige Exemplare, je unauffälliger, desto besser. Wie überhaupt mein Äußeres dergestalt beschaffen ist, mich kaum von meiner Umgebung abzuheben. Grau ist die Farbe der Wahl, außen wie innen. Gelingt es mir ganz und gar grau zu sein, der Natürlichkeit halber mit dezenten, farbigen Abstufungen, bin ich quasi unsichtbar.