Du sitzt im Zug, unterwegs nach Leipzig. Gelangweilt schaust du aus dem Fenster und siehst dem Verschwinden der trostlosen Landschaft zu, die rasch an dir vorüberzieht. Eine Erinnerung nimmt dich gefangen. Du bekommst feuchte Augen. Gleich werden Tränen über deine Backen laufen. Du siehst dich im Bett liegen an diesem Morgen, damals vor 63 Jahren. Du bist sechs Jahre alt und lebst mit Mutter, Vater und Bruder in Leipzig. Es ist Ende Juli oder Anfang August 1961. Deine Mutter tritt an dein Bett und fragt dich, ob du mit ihr und deinem Bruder verreisen willst. Was dieses Verreisen bedeutet, ist dir in diesem Moment nicht klar. Aber warum nicht, wenn dein Teddybär auch mitdarf. Während du in deine Kleider schlüpfst, packt deine Mutter hastig deinen kleinen Rucksack. Viel passt da nicht hinein. Das Nötigste. Dein sieben Jahre älterer Bruder steht bereits im Korridor und wartet. Deine Mutter folgt mit Handtasche und kleinem Handgepäck.
Warum nur musst du gerade jetzt daran denken? Weil du in einem Zug sitzt, der demnächst in Leipzig halten wird?
Ein weiteres Erinnerungsbild. Ihr sitzt im Zugabteil. Verreisen ist aufregend, aber irgendetwas an dieser Reise ist eigenartig. Dass ihr nur mit sehr schmalem Gepäck unterwegs seid, beunruhigt dich nicht weiter. Aber warum sitzt dein Bruder so still und in sich gekehrt neben dir? Warum freut er sich gar nicht? Und warum macht deine Mutter einen so angespannten, nervösen Eindruck? Der Zugschaffner betritt das Abteil und kontrolliert die Fahrkarten. Hinter ihm etliche Männer in Uniform. Einer von ihnen fragt deine Mutter, wohin sie unterwegs ist. Nach Ostberlin, antwortet sie betont selbstverständlich. Der Uniformierte verlangt den Ausweis, mustert das wenige Gepäck, schaut deine Mutter an, deinen Bruder. Na, spricht er dich freundlich an, dein Teddy darf auch verreisen? Ohne zu überlegen, antwortest du, dass dein Teddy immer mit muss. Und bevor du noch ein weiteres Wort sagen kannst, sieht dich deine Mutter streng an, was dich irgendwie verwirrt und verstummen lässt. Auch der Uniformierte scheint für eine Moment irritiert (später wirst du wissen, dass es sich um einen Offizier der DDR-Volkspolizei handelte). Doch dann gibt er deiner Mutter achselzuckend den Ausweis zurück.
Neue Erinnerung, neue Tränen. Ihr seid angekommen. Ostberlin, Bahnhof Friedrichstraße (was du zu diesem Zeitpunkt nicht weißt). Viele Menschen. Ein unglaubliches Hin und Her. Fast kein Durchkommen. Du siehst nur Arme, Beine, Koffer und Taschen. Verreisen gefällt dir jetzt nicht mehr. Aber gleichzeitig ist dir das egal, denn du willst unbedingt bei deiner Mutter und deinem Bruder sein. Bloß nicht verloren gehen. Plötzlich packt dich deine Mutter fest an der Hand. Du erschrickst. Du spürst ihre Panik, die sich auf dich überträgt. Rasch schiebt sie sich mit euch mitten ins Gedränge, dorthin, wo es am dichtesten scheint. Pfeifen, laute Befehle, Schreie. Überhaupt findest du, dass es hier sehr laut zugeht. Dann schert ihr aus. Treppe runter, Treppe rauf, jetzt ziemlich hastig, vorbei an Uniformen, die sich ins Gewühl werfen und einzelne Passanten aus dem Gedränge ziehen. Neuer Bahnsteig, neuer Zug. Deine Mutter zieht dich hinein, dein Bruder folgt, Türen zu, Abfahrt. Schnitt.
Du siehst dich und deinen Bruder in einem weitläufigen, parkähnlichen Gelände, das zu einem Kloster gehört. Ihr tollt herum, sucht euch die Zeit zu vertreiben. Zum Beispiel mit einem Gartenschlauch. Damit kann man sich herrlich vollspritzen und nicht nur sich. Die Nonnen sind davon nicht erbaut und weisen euch zurecht, vor allem weil ihr vergessen habt, das Wasser abzudrehen. Deine Mutter ist die meiste Zeit unterwegs auf irgendwelchen Ämtern, wie sie euch erzählt. Du weißt jetzt, dass ihr in Westberlin seid, dass ihr Aufnahme in diesem Kloster gefunden habt, einem Auffanglager für DDR-Flüchtlinge. Deine Mutter erklärt dir, dass ihr auf Papiere wartet und dann nach Westdeutschland gehen werdet. Was das genau bedeutet, ist dir nicht klar. An deinen Vater, den ihr zurückgelassen habt, denkst du nicht. Zu vermissen scheinst du ihn nicht.
Und noch ein Bild. Ihr besteigt ein Flugzeug. Du fliegst zum ersten Mal. Ihr fliegt nach Frankfurt am Main. Ob das schön und aufregend war, weißt du nicht. Du erinnerst dich nicht. Aber es gibt ein Foto (von dem du nicht weißt, wer es geschossen hat). Du hast es von deiner Mutter. Es zeigt Passagiere, die eben ein Flugzeug verlassen, zuvorderst am rechten, unteren Bildrand, fast schon aus dem Bild tretend, du selbst, hinter dir, noch auf der Treppe, dein schmaler, fast schmächtiger Bruder, weiter oben deine Mutter. Ihr schaut erschöpft aus. Auf dieser Fotografie scheinst du irgendwie anders zu sein, kein Kind mehr, oder besser gesagt, ein in sich zurückgezogenes Kind.
Jahre später, fast ebenso plötzlich, wird dieses Kind erwachsen sein, rebellisch, selbstbewusst (noch ohne Grund), mit einem klugen Kopf (der ihm wenig nützen wird). Es wird lernen, seiner Mutter dankbar zu sein. Es wird erkennen, dass sie es vor einem totalitären Gesellschaftssystem bewahrt hat.
Und wieder Tränen. Gibt es noch mehr Erinnerungen, noch eindringlichere? Du musst sie in dir vergraben haben (vielleicht aus gutem Grund) und du weißt nicht genau, ob du wirklich wissen willst wo.